Der Seitensprung
wusste noch, dass man sich Schuhe anziehen musste, bevor man hinausging.
Nicht der Värmdövägen. Sie musste sich an die kleineren Straßen halten.
Die Häuser, die sie umgaben, die erleuchteten Fenster, kürzlich nach Hause gekommene Familien, die nach einem neuen Arbeitstag wieder vereint waren. Alles nur eine Kulisse, die sie bestrafen sollte. Nicht zu verkaufen. Unerreichbar. Von jetzt an darfst du nur gucken, nie mehr teilnehmen. Du bist aus unserer Gemeinschaft verwiesen. Für alle Zeiten geächtet, aber nicht vergessen.
Wie durch einen schmutzigen Filter sah sie ein Auto näher kommen. Sie streckte ihre Hand nach hinten, um sich die Kappe über den Kopf zu ziehen. Um unsichtbar zu sein. Die Kappe war nicht am gewohnten Platz. Sie sah an sich herunter und merkte, dass auch die Jacke fehlte. Das Auto fuhr vorbei. Musste weiter, musste fort.
Zuerst bemerkte sie den Wagen nicht, der im Schritttempo neben ihr herfuhr. Ahnte nur etwas Weißes am Rande ihres Gesichtsfeldes. Dann überholte er sie und hielt. Jemand stieg aus.
»Hallo.«
Eine überraschte Stimme, die sich zu freuen schien.
Niemanden konnte ihr Anblick erfreuen.
Sie blieb stehen. Etwas Bekanntes war an der Gestalt, deren Gesicht von der Straßenlaterne schwach beleuchtet wurde.
»Dass man dich hier trifft, wohnst du hier in der Gegend?«
Farbenfrohe Bilder. Die Stimme verknüpft mit abstrakten Mustern.
»Wie geht es dir überhaupt? Kann ich dich irgendwo hinfahren?«
Alles leer. Und dann er, der ihretwegen aufrichtig besorgt schien, der sich immer noch dazu herabließ, mit ihr zu sprechen. Dann sah sie Daniels Eltern vom anderen Ende der Straße auf sie zukommen. Beide mit Aktentasche. Auf dem Weg vom Bus nach Hause. Bald würden sie sich begegnen. Blumen für Linda. Sie wussten, was sie getan hatte, und hatten sich heute an den Blumen für Linda beteiligt. Keine Abzweigung, kein Fluchtweg.
Sie ging zum Beifahrersitz und stieg ein.
Bring mich von hier weg.
Lass mich nur nicht Daniels Eltern treffen.
Schlimmer kann es doch nicht kommen?
WENN BLOSS NICHT.
So viele Wenn-bloß-nicht. So viele, dass nicht mehr zu erkennen war, wann das erste passiert war. Vollkommen stumm saßen sie da. Er fragte nicht, wo sie hinfahren wollte, und sie machte sich keine Gedanken, wohin er unterwegs war. Lehnte nur den Kopf an die Nackenstütze und schloss die Augen. Eine stille Freistatt, in der sie von jedem Vorwurf befreit war.
Erst, als der Wagen hielt und der Motor ausgeschaltet wurde, öffnete sie die Augen. Ein Wendeplatz. Einige geparkte Autos. Mietshäuser. Sie erinnerte sich an ihren letzten Besuch.
Mit einer Willensanstrengung drehte sie den Kopf und sah ihn an. Nahm das warme Lächeln in sich auf und senkte den Blick, ließ ihn auf seinen Händen verweilen, die auf dem Lenkrad ruhten. Sie erinnerte sich, wie linkisch sie gewesen, wie täppisch sie über ihren Körper gewandert waren, und wunderte sich, dass sie es ihnen gestattet hatte.
Noch ein Wenn-bloß-nicht.
»Danke fürs Mitnehmen.«
Sie setzte dazu an, die Beifahrertür zu öffnen. Die Kraftlosigkeit wie ein Schmerz in den Gliedern, ein physisches Flehen, sich nicht mehr rühren zu müssen.
»Willst du nicht ein Weilchen mit hineinkommen?«
Sie ließ die Hand auf dem Türgriff liegen, während sie nach einer Antwort suchte. In seiner Stimme hörte sie Erwartung, und das war mehr, als sie ertragen konnte. Sie öffnete die Tür, und die Kälte, die ihr entgegenschlug, rief ihr in Erinnerung, dass sie keine Jacke dabei hatte. Kein Geld.
Nichts.
»Ich habe Birnencidre zu Hause. Kannst du nicht reinkommen und ein Glas trinken? Um ehrlich zu sein, siehst du aus, als könntest du es gebrauchen. Danach fahre ich dich, wohin du willst.«
Wohin du willst. Wo war das? Gab es einen solchen Ort?
Wenn bloß nicht.
Die ganze Kette zurück war verknüpft von vielen Wenn-bloß-nicht. Aber das erste Glied in der Kette gehörte Henrik. Der Betrug. Seine Feigheit. Die Wut, die er ihr entgegengebracht hatte. Die Rücksichtslosigkeit.
Kerstins Urteil hallte in ihrem Kopf wider. Man muss immer die Verantwortung für seine Taten übernehmen. Was wusste Kerstin von dem, was Henrik ihr angetan hatte? Was er getan hatte, um ihre Untat zu provozieren. Von der Ohnmacht, die sie gefühlt hatte. Doch sie würde nie die Möglichkeit erhalten, sich zu verteidigen. Nicht vor denen, die das Recht zu haben glaubten, über sie zu richten. Das Urteil war gefällt und die Strafe vollstreckt.
Paria.
Aber was
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