Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
mich nicht«, lautete die Antwort. »Eines Tages, Utterson, wenn ich erst tot bin, wirst du vielleicht erfahren, was Recht und Unrecht bei dieser Sache ist. Ich kann es dir nicht erzählen; und inzwischen, wenn du es über dich bringst, bei mir zu sitzen und über andere Dinge zu sprechen, um Gottes willen, bleib und tue es! Kannst du dich aber von diesem verfluchten Thema nicht frei machen, dann, in Gottes Namen, geh; denn ich vermag es nicht zu ertragen.«
Sobald Utterson wieder zu Hause war, setzte er sich hin und schrieb an Jekyll, beklagte sich über seinen Ausschluß aus dem Hause und erkundigte sich nach der Ursache dieses unseligen Bruches mit Lanyon. Der nächste Tag schon brachte ihm ein langes Antwortschreiben, oft sehr rührend in seiner Formulierung, bezüglich des eigentlichen Kerns aber reichlich dunkel gehalten. Der Bruch mit Lanyon wäre unheilbar. »Ich tadle unseren alten Freund nicht«, schrieb Jekyll, »aber ich teile seine Ansicht, daß wir nie wieder zusammenkommen können. Ich beabsichtige, hinfort mein Leben in völliger Abgeschiedenheit zu verbringen. Das darf dich aber nicht überraschen; du sollst auch nicht an meiner Freundschaft zweifeln, wenn selbst dir meine Tür oft verschlossen ist. Du mußt mich schon meinen eigenen finsteren Weg gehen lassen. Ich habe selbst Strafe und Gefahr, die ich nicht nennen kann, auf mein Haupt herabbeschworen. Wie ich der erste unter den Sündern bin, bin ich auch der erste unter den Leidenden. Nie habe ich geahnt, daß auf dieser Erde Platz für so ein unmenschliches Leid, für so furchtbare Schrecknisse ist, und du kannst nur eines tun, Utterson, dieses herbe Schicksal zu mildern: Das ist, mein Schweigen zu achten.« Utterson war erschüttert. Der finstere Einfluß Hydes war verschwunden gewesen, der Doktor wieder zu seinen alten Aufgaben und Freundschaften zurückgekehrt. Noch vor einer Woche hatte ihm die Zukunft lächelnd ein fröhliches und ein ehrenvolles Alter verheißen; und jetzt, in einem Augenblick, Freundschaft und Seelenfrieden und der ganze Sinn seines Lebens in Trümmern. Eine so große, so unerwartete Änderung ließ auf Wahnsinn schließen; aber angesichts Lanyons Verhalten und Worten mußte der Grund tiefer liegen.
Eine Woche später mußte sich Dr. Lanyon zu Bett legen, und in weniger als vierzehn Tagen war er tot. Am Abend nach dem Begräbnis, das Utterson tief ergriffen hatte, verschloß der Anwalt die Tür seines Arbeitszimmers und zog beim Scheine einer melancholischen Kerze ein Kuvert hervor, adressiert von der Hand und verschlossen mit dem Siegel seines toten Freundes. »Privat: lediglich für die Hand J. G. Uttersons bestimmt und im Falle seines Ablebens ungelesen zu vernichten«, lautete die emphatische Aufschrift. Der Anwalt fürchtete sich fast, den Inhalt kennenzulernen. »Einen Freund habe ich heute beerdigt«, dachte er, »wird mich dies vielleicht einen zweiten kosten?« Dann aber verwarf er diese Furcht als eine Treulosigkeit und erbrach das Siegel. In dem Umschlag befand sich ein weiteres Kuvert, in gleicher Weise versiegelt, mit der Aufschrift: »Bis zum Tode oder bis zu dem Verschwinden Dr. Henry Jekylls nicht zu öffnen.« Utterson wollte seinen Augen nicht trauen. Gewiß, da stand »Verschwinden«, hier wieder, genau wie in dem verrückten Testament, das er langst seinem Verfasser zurückgegeben hatte. Hier tauchte wieder die Idee eines Verschwindens in Verbindung mit dem Namen von Henry Jekyll auf. Aber in dem Testament war dieser Gedanke den finsteren Einflüsterungen des Mannes Hyde entsprungen. Er war dort eingefügt mit einer nur allzu klaren und furchtbaren Absicht. Niedergeschrieben von der Hand Lanyons, was konnte er da bedeuten? Gewaltige Neugier ergriff den Vertrauensmann, unter Mißachtung des Verbotes sofort diesem Geheimnis auf den Grund zu kommen. Aber berufliche Ehre und die Treue dem toten Freunde gegenüber waren strenge Bindungen, und das Paket flog in die entfernteste Ecke seines Geldschranks. Es sind zwei verschiedene Dinge, Neugier zu unterdrücken und Neugier zu besiegen, und man kann es wohl bezweifeln, ob Utterson hinfort noch mit dem nämlichen Eifer ein Zusammensein mit seinem überlebenden Freunde herbeisehnte. Er dachte voller Freundschaft an ihn, aber seine Gedanken waren unruhig und furchterfüllt. Er ging ihn besuchen, aber vielleicht schaffte es ihm Erleichterung, nicht zugelassen zu werden; vielleicht zog er es in seinem innersten Herzen vor, mit Poole auf der Türschwelle, umgeben
Weitere Kostenlose Bücher