Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
in einem wütenden Tone an, der die Gereiztheit seiner eigenen Nerven bewies, und wahrlich, als das Mädchen so plötzlich ihre Klagen laut werden ließ, hatten sich alle umgewandt und starrten mit ängstlich gespannten Gesichtern auf die Innentür. »Reich mir mal einen Leuchter!« fuhr der Hausmeister, zum Küchenjungen gewandt, fort. »Dann wollen wir der Sache mit einem Schlage auf den Grund kommen.« Dann bat er Mr. Utterson, ihm zu folgen, und schritt den Weg zum Hintergarten voran.
»Bitte, Herr«, sagte er, »gehen Sie so leise, wie Sie können. Ich möchte, daß Sie hören, aber nicht gehört werden. Und hören Sie auf mich, Herr, falls er Sie vielleicht auffordern sollte hineinzukommen, tun Sie's nicht!«
Mr. Uttersons Nerven erhielten bei diesem unerwarteten Schluß einen derartigen Stoß, daß er kaum sein seelisches Gleichgewicht zu bewahren vermochte. Aber er nahm allen Mut zusammen, folgte dem Hausmeister in den Laboratoriumsbau und durch den Hörsaal mit seinem Gerumpel von Kisten und Flaschen bis zum Fuße der Treppe. Hier veranlaßte Poole ihn, auf der einen Seite stehenzubleiben und zu lauschen, während er selbst, nachdem er den Leuchter niedergestellt und mühsam seine ganze Entschlußkraft zusammengerafft hatte, die Stufen emporstieg und mit einer etwas zitternden Hand an der roten Friestür des Arbeitszimmers pochte.
»Mr. Utterson, Herr, möchte Sie besuchen.« Gleichzeitig gab er dem Anwalt durch heftige Gesten zu verstehen, ja gut aufzupassen.
Von innen antwortete eine weinerliche Stimme: »Sage ihm, daß ich niemand sehen kann.«
»Ich danke Ihnen, Herr«, sagte Poole mit einem fast triumphierenden Klang in der Stimme.
Dann nahm er den Leuchter wieder auf und führte Mr. Utterson über den Hof zurück in die große Küche, wo das Feuer ausgegangen war und die Schwabenkäfer sich auf dem Fußboden tummelten.
»Herr«, sagte er und blickte Mr. Utterson in die Augen, »war das die Stimme meines Herrn?«
»Sie schien stark verändert«, erwiderte der Anwalt, zwar sehr bleich, aber den Blick fest zurückgebend.
»Verändert? Ja, gewiß, das denk' ich auch«, entgegnete der Hausmeister. »Bin ich zwanzig Jahre lang in dem Hause dieses Mannes gewesen, um mich über seine Stimme täuschen zu lassen? Nein, Herr. Mein Herr ist verschwunden! Schon vor acht Tagen wurde er umgebracht, damals, als wir ihn den Namen Gottes anrufen hörten. Und wer steckt dort statt seiner drin? Und warum bleibt er dort? Das sind Sachen, die zum Himmel schreien, Mr. Utterson.«
»Das ist eine sehr seltsame Geschichte, Poole, Das ist fast eine etwas wüste Geschichte, mein lieber Mann«, sagte Mr. Utterson und biß sich auf den Finger. »Angenommen, die Sache wäre so, wie Sie es vermuten, angenommen, Dr. Jekyll wäre - gut, er wäre ermordet worden, was könnte wohl den Mörder veranlassen, dort zu bleiben? Das ist nicht stichhaltig, dafür gibt es keinen vernünftigen Grund.« »Nun gut, Mr. Utterson, Sie sind ein schwer zu befriedigender Herr, aber ich will es dennoch tun«, entgegnete Poole. »Die ganze letzte Woche (müssen Sie wissen) hat er, oder es, oder was auch immer dort in jenem Zimmer lebt, Nacht und Tag nach einer gewissen Medizin geschrien und kann sich nicht darauf besinnen. Es war manchmal seine Art - die Art des seligen Herrn -, seine Befehle auf einen Fetzen Papier zu schreiben und diesen auf die Treppe zu schmeißen. In der ganzen vergangenen Woche haben wir nichts anderes zu sehen bekommen; nichts außer solchen Zetteln, und eine verriegelte Tür, und die davorgestellten Speisen, um hineingeschmuggelt zu werden, wenn niemand zusah. Schön, Herr, jeden Tag, ja, und zwei- und dreimal am gleichen Tage, sind Befehle und Beschwerden ergangen, und ich bin in rasender Eile zu sämtlichen Apothekern in der ganzen Stadt herumgehetzt worden. Jedesmal brachte ich das verlangte Zeug mit; dann kam ein neues Papier, das mir befahl, es zurückzubringen, weil es nicht rein wäre, und eine neue Bestellung an eine andere Firma. Diese Droge wird bitter nötig gebraucht, Herr, wofür es auch immer sein mag.« »Haben Sie noch einen dieser Zettel?« fragte Mr. Utterson. Poole fühlte in seine Tasche und zog ein zusammengeknülltes Papier heraus, das der Anwalt, dicht unter die Kerze haltend, sorgfältig prüfte. Der Inhalt lautete folgendermaßen: »Dr. Jekyll sendet den Messrs. Maw seine besten Empfehlungen. Er muß Ihnen leider versichern, daß Ihre letzte Probe unrein und für seinen augenblicklichen Zweck
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