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Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Titel: Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert L Stevenson
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weinen.«
    »Weinen? Was heißt das?« fragte der Anwalt mit einem plötzlichen Schauer des Schreckens.
    »Weinen wie eine Frau oder eine verlorene Seele«, sagte der Hausmeister. »Es bedrückte so mein Herz, daß ich gleichfalls hätte weinen mögen.«
    Jetzt waren die zehn Minuten vorüber. Poole zog unter einem Haufen Packstroh die Axt hervor, die Kerze wurde auf den nächstgelegenen Tisch gestellt, um ihnen bei ihrem Angriff zu leuchten, und mit verhaltenem Atem näherten sie sich dem Platze, worinnen jener ausdauernde Fuß in der Stille der Nacht noch immer einherging, auf und ab, auf und ab. »Jekyll!« rief Utterson mit lauter Stimme, »ich muß dich sehen!«
    Einen Moment lang wartete er, aber es kam keine Antwort. »Ich warne dich ehrlich. Unser Argwohn ist erwacht, und ich muß und werde dich sehen«, schloß er. »Wenn nicht mit ehrlichen, dann mit unehrlichen Mitteln - wenn nicht mit deiner Zustimmung, dann mit brutaler Gewalt.«
    »Utterson«, antwortete die Stimme, »um des Himmels willen, sei barmherzig!«
    »Ah!« rief Utterson. »Das ist nicht Jekylls Stimme - Poole, nieder mit der Tür!«
    Poole schwang die Axt über seinem Kopf, der Schlag ließ das Gebäude erzittern, und die rote Friestür erzitterte in Schloß und Angel. Ein mißtöniges Gekreisch wie von tierischer Angst drang aus dem Kabinett. Wieder hob sich die Axt, wieder krachten die Füllungen, und das Gerüst erzitterte. Viermal noch erdröhnte der Schlag, aber das Holz war zäh und das Türgerüst ausgezeichnete Zimmermannsarbeit. Erst beim fünften Hieb barst der Riegel in Stücke, und die Trümmer der Tür stürzten nach innen auf den Teppich. Die Sieger, erschreckt über ihren eigenen Lärm und die plötzlich eingetretene Stille, traten ein Stückchen zurück und lugten hinein. Da lag das Kabinett vor ihren Augen in ruhigem Lampenlicht, ein angenehmes Feuer glühte und knatterte in dem Kamin, der Kessel sang an seiner dünnen Kette. Eine oder zwei Schubladen standen offen, auf dem Experimentiertisch lagen wohlgeordnet Schriftstücke, und nahe dem Feuer war alles für den Tee vorbereitet: das friedlichste Zimmer, hätte man meinen können, und, abgesehen von den mit allen möglichen Chemikalien vollgepfropften Glasschränken, der gemütlichste Raum heute nacht in London.
    Doch direkt in der Mitte lag der schmerzlich zusammengekrümmte, noch zuckende Körper eines Mannes. Auf Zehenspitzen schlichen sie näher, drehten den Körper auf den Rücken und erblickten das Antlitz - Edward Hyde. Er war bekleidet mit Kleidern, die viel zu groß für ihn waren, einem Anzüge für des Doktors Größe. Die Muskeln seines Gesichtes zuckten noch mit einem Schein von Leben, aber die Seele war bereits entflohen. Angesichts der zerpreßten Phiole in seiner Hand und des starken Bittermandelgeruches, der in der Luft hing, wußte Utterson, daß er den Leib eines Selbstmörders vor sich hatte.
    »Wir sind zu spät gekommen«, sagte er ernst, »zu retten sowohl wie zu strafen. Hyde ist zu seinem Richter eingegangen; uns bleibt lediglich, den Körper Ihres Herrn zu suchen.«
    Der bei weitem größte Teil des Gebäudes wurde von dem Hörsaal eingenommen, der fast das ganze Erdgeschoß umfaßte und mittels Oberlicht erleuchtet wurde, sowie von dem Arbeitszimmer, das an dem einen Ende ein Zwischengeschoß bildete und auf den Hof hinaussah. Ein Korridor führte von dem Hörsaal nach der Tür in der Nebenstraße. Mit diesem Gang stand auch das Arbeitszimmer durch eine zweite Treppe in direkter Verbindung. Außerdem gab es dort noch ein paar dunkle Kammern und einen geräumigen Keller. Diese ganzen Räumlichkeiten durchstöberten die beiden von oben bis unten. Bei den verschiedenen Kammern bedurfte es nur eines flüchtigen Blickes; denn alle waren leer, und der Staub, der von den Türen herabfiel, zeigte, daß sie schon lange nicht mehr geöffnet worden waren. Der Keller dagegen war mit altem Plunder angefüllt, der zum größten Teil noch aus der Zeit von Jekylls Vorbesitzer, dem Chirurgen, stammte. Als sie jedoch die Tür öffneten, wurde ihnen sofort die Zwecklosigkeit eines weiteren Nachforschens klar; denn ein förmlicher Teppich von Spinnweben hatte offenbar schon seit Jahren den Eingang überzogen. Nirgends fand sich auch nur eine Spur von Henry Jekyll, tot oder lebend. Poole stampfte auf die Fliesen des Korridors: »Hier muß er begraben sein«, und lauschte auf den Klang.
    »Falls er nicht entflohen ist«, meinte Utterson und machte kehrt, um die nach der

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