Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Ernsthafter als je vorher begann ich über die Folgen und Möglichkeiten meiner Doppelexistenz nachzudenken. Jener Teil meines Wesens, den ich die Macht hatte hervorzuzaubern, war in letzter Zeit in allzu hohem Maße geübt und gepflegt worden. Schon kürzlich hatte ich den Eindruck, als hätte der Körper Edward Hydes an Größe zugenommen, als strömte mir (wenn ich jene Form trug) das Blut lebhafter durch die Adern, und ich fing an eine Gefahr zu ahnen, daß, wenn dieses noch lange so fortging, das Gleichgewicht meiner Natur dauernd gestört werden könnte, die Macht willkürlicher Veränderung verscherzt und der Charakter Edward Hydes unwiderruflich der meinige würde. Die Kraft der Droge hatte nicht immer gleichmäßig gewirkt; einmal, ganz am Anfang meiner Laufbahn, hatte sie gänzlich versagt; dann hatte ich mich bei mehr denn einer Gelegenheit genötigt gesehen, die Menge zu verdoppeln, und einmal sogar, unter unerhörter Lebensgefahr, zu verdreifachen. Diese seltenen Unzuverlässigkeiten waren es, die bisher den einzigen Schatten auf mein Vergnügen geworfen hatten. Jetzt jedoch, angesichts des heutigen Vorfalles, erkannte ich, daß, während zu Anfang die Schwierigkeit bestanden hatte, den Leib Jekylls abzuwerfen, sich das später, ganz allmählich, aber entschieden gerade ins Umgekehrte gewandelt hatte. Alles schien daher auf das eine hinzuweisen: daß ich langsam, ganz langsam den Halt an meinem ursprünglichen und besseren Selbst verlor und allmählich in mein zweites und schlechteres Wesen umgewandelt wurde.
Zwischen diesen beiden, das fühlte ich, mußte ich jetzt wählen. Meinen beiden Naturen gemeinsam war die Erinnerung. Alle übrigen Fähigkeiten jedoch waren völlig ungleich und scharf zwischen ihnen geschieden. Jekyll (der ein Gemisch darstellte, bald voll zartester Empfindungen, bald voll schmutziger Gier) plante und teilte die Vergnügungen und Abenteuer Hydes. Hyde jedoch stand Jekyll indifferent gegenüber oder gedachte seiner höchstens, wie der Bergräuber der Höhle gedenkt, in der er sich vor Verfolgung verbirgt. Jekyll besaß mehr als eines Vaters Interesse; Hyde mehr als eines Sohnes Gleichgültigkeit. Mein Schicksal mit Jekyll verbinden hieß jenen Geschmack abtöten, dem ich lange heimlich gefrönt und den ich seit kurzem direkt zu pflegen begonnen hatte; es mit Hyde verbinden bedeutete den Verzicht auf tausend Interessen und Sehnsüchte und hieß mit einem Schlage für immer verachtet und freundlos werden. Der Handel mochte ungleich erscheinen, aber noch etwas anderes mußte überlegt werden: Während Jekyll schmerzlich unter den Qualen der Abstinenz leiden mußte, würde Hyde sich nicht einmal dessen bewußt sein, was er alles verloren hatte. Einzigartig, wie meine Lage war, die Bedingungen dieses Streites sind so alt und so verbreitet wie die Menschen. Fast die gleichen Verführungen und Note werfen das Los für jeden verführten und schwankenden Sünder, und dieser Kampf ging auch für mich aus, wie er für die große Mehrheit meiner Kameraden ausgeht:
Ich wählte den besseren Teil, aber mir fehlte die Kraft, ihn festzuhalten.
Ja, ich bevorzugte den ältlichen und unzufriedenen Doktor, umgeben von Freunden, dem eine ehrenhafte Zukunft winkte; entschlossen sagte ich der Freiheit Lebewohl, der vergleichsweisen Jugend, dem leichten Schritt, den hüpfenden Pulsen und geheimen Vergnügungen, denen ich in der Maske Hydes gefrönt hatte. Vielleicht traf ich diese Wahl mit einem unbewußten Vorbehalt, denn weder gab ich das Haus in Soho auf, noch vernichtete ich die Kleider Edward Hydes, die noch immer in meinem Arbeitszimmer bereitlagen. Zwei Monate jedoch blieb ich meiner Wahl treu, zwei Monate führte ich ein Leben solcher Strenge, wie ich es vorher nie erreicht hatte, und fand mich durch die Billigung meines Gewissens belohnt. Aber endlich begann die Zeit die Unmittelbarkeit meiner Sorge zu verwischen. Die Lobpreisungen des Gewissens wurden zu einer Alltäglichkeit, kreißende Schmerzen und Lüste begannen mich zu quälen, als ob Hyde um seine Freiheit rang, und endlich, in einer Stunde moralischer Schwachheit, mischte und trank ich wieder einmal den Zaubertrank.
Ich glaube nicht, daß ein Trunkenbold, der zur Einsicht seines Lasters kommt, damit auch nur eine der fünfhundert Gefahren, die ihm von dieser tierischen Sinnlosigkeit drohen, erkennt. So ging es auch mir. So eingehend ich auch meine Lage überdacht hatte, so hatte ich doch nicht genügend diese vollkommene moralische
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