Der seltsame Mr Quin
sie.
»Am nächsten Morgen reiste er ab«, sagte sie dann. »Ich habe ihn nie mehr wiedergesehen… Neun Monate später brachte ich einen Jungen zur Welt. Die ganze Zeit über war ich unbeschreiblich glücklich. Ein Kind zu bekommen, ganz friedlich, ohne dass mir jemand wehtat oder mich quälte! Ich wünschte, dass ich meinen englischen Freund nach seinem Vornamen gefragt hätte! Ich hätte den Jungen nach ihm genannt. Es schien mir so herzlos, wenn ich es nicht tat, irgendwie unfair. Er hatte mir geschenkt, was ich mir am meisten auf der Welt wünschte, und er würde es nicht einmal erfahren. Natürlich sagte ich mir, dass er die Sache nicht so ansehen würde. Vermutlich hätte er sich nur geärgert oder sich Sorgen gemacht, wenn er es gewusst hätte. Ich war einfach ein amüsanter Zeitvertreib für ihn gewesen, nicht mehr.«
»Und Ihr Sohn?«, fragte Mr Sattersway.
»Er ist großartig! Ich nannte ihn John. Ich wünschte, Sie könnten ihn kennen lernen! Jetzt ist er zwanzig. Er wird Bergwerksingenieur. Er ist der beste und liebste Sohn, den es gibt. Ich erzählte ihm, dass sein Vater vor seiner Geburt gestorben sei.«
Mr Sattersway sah sie nachdenklich an. Eine seltsame Geschichte. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie noch nicht zu Ende erzählt hatte, dass da noch mehr war.
»Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit«, meinte er. »Haben Sie nie daran gedacht, wieder zu heiraten?«
Sie schüttelte den Kopf, und die Röte stieg ihr in die Wangen.
»Das Kind genügte Ihnen – immer?«
Ihr Blick wurde weich.
»Was für seltsame Dinge passieren können!«, murmelte sie. »Wirklich, sehr seltsame Dinge. Sie würden es nicht glauben… Doch, vielleicht glauben Sie mir sogar. Ich liebte Johns Vater damals nicht. Ich wusste wohl gar nicht, was Liebe war. Ich hielt es für selbstverständlich, dass der Junge mir ähnlich sehen würde, doch ich täuschte mich. Man hätte denken können, dass er gar nicht von mir sei. Er glich seinem Vater. Er war sein genaues Ebenbild. So lernte ich jenen Mann näher kennen – durch seinen Sohn. Wegen seines Sohnes begann ich, ihn zu lieben. Ich liebe ihn auch jetzt noch. Ich werde ihn immer lieben. Sie mögen sagen, dass es nur Einbildung sei, dass ich mir ein Ideal erträumt habe, aber es stimmt nicht. Ich liebe den Mann, den wirklichen Menschen! Ich würde ihn jederzeit wiedererkennen, obwohl es über zwanzig Jahre her ist, dass wir uns begegneten. Seit zwanzig Jahren liebe ich ihn. Ich werde ihn lieben bis in den Tod.«
Sie schwieg. Dann fragte sie herausfordernd: »Halten Sie mich für verrückt? Weil ich solche seltsamen Dinge sage?«
»Aber meine Liebe!«, erwiderte Mr Sattersway und ergriff wieder ihre Hand.
»Sie verstehen mich wirklich?«
»Ich glaube, ja. Aber da ist noch mehr, nicht wahr? Sie haben mir noch nicht alles erzählt.«
Sie runzelte die Stirn. »Ja. Wie klug von Ihnen, das zu erraten. Ich wusste sofort, dass Sie zu den Menschen gehören, vor denen man nichts verbergen kann. Aber ich möchte es Ihnen nicht erzählen, weil es für Sie so besser ist.«
Sie sah ihn trotzig an.
Das ist der Augenblick der Wahrheit, überlegte Mr Sattersway. Ich habe alle Trümpfe in der Hand. Ich sollte herausbekommen können, was es ist. Wenn ich geschickt agiere, werde ich es erfahren.
Nach einer kleinen Pause meinte er vorsichtig: »Etwas ist schief gelaufen.«
Er beobachtete, wie sie kurz die Lider senkte, und wusste, dass er auf dem richtigen Weg war. »Etwas ist schief gegangen, ganz plötzlich, nach all den Jahren.«
Er spürte, wie er ihrem Geheimnis näher kam, das sie im tiefsten Winkel ihres Herzens vor ihm zu verbergen versuchte. »Der Junge… es hat etwas mit dem Jungen zu tun. Alles andere wäre Ihnen gleichgültig.«
Sie stieß einen schwachen Seufzer aus, und er wusste, dass er sich nicht getäuscht hatte. Ein grausames Spiel, aber notwendig. Ihr Wille stand gegen den seinen. Sie besaß einen unbeugsamen, rücksichtslosen Geist, doch auch hinter Mr Sattersways freundlichem und bescheidenem Benehmen verbarg sich eine eiserne Entschlossenheit. Voll Verachtung dachte er an die Männer, deren Beruf es war, etwas so gewöhnliches wie ein Verbrechen aufklären zu müssen. Aber mit dem Geist aufzuspüren, Hinweise zusammenzutragen, dieses Hinabtauchen nach der Wahrheit, diese Freude, wenn man dem Ziel immer näher kam… Gerade ihr leidenschaftlicher Versuch, die Wahrheit vor ihm zu verbergen, half ihm. Er spürte, wie sie sich trotzig versteifte, als er sich
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