Der seltsame Mr Quin
ich schon ein Jahr hier gelebt.«
»Eine sehr lange Zeit«, bemerkte Mr Sattersway etwas geistlos, oder glaubte es jedenfalls.
»Meinen Sie das eine Jahr? Oder die andern zweiundzwanzig?«
Mr Sattersways Interesse erwachte, und er erwiderte ernst: »Das hängt ganz davon ab.«
Sie nickte. »Ja. Es sind zwei verschiedene Zeitabschnitte, und sie haben nichts miteinander zu tun. Was ist lang? Was ist kurz? Selbst heute weiß ich es noch nicht.«
Sie schwieg eine Minute und geriet ins Grübeln. Dann meinte sie mit einem scheuen Lächeln: »Es ist lange her, seit ich mich mit jemandem unterhalten habe, sehr lange. Ich entschuldige mich nicht. Sie kamen an meine Tür, Sie wollten ins Innere schauen. Das tun Sie immer, nicht wahr? Sie öffnen die Läden und blicken wie durch ein Fenster auf die Wahrheit im Leben der Menschen. Falls sie es Ihnen erlauben. Manchmal tun Sie es auch ohne ihre Erlaubnis. Es dürfte schwierig sein, vor Ihnen etwas zu verbergen. Sie würden es doch erraten.«
Mr Sattersway hatte den seltsamen Drang, vollkommen ehrlich zu sein. »Ich bin neunundsechzig«, sagte er. »Alles, was ich vom Leben weiß, weiß ich durch andere. Manchmal ist diese Erkenntnis sehr bitter. Und doch weiß ich eine ganze Menge.«
Sie nickte nachdenklich. »Ja. Das Leben ist sehr seltsam. Ich kann mir gar nicht vorstellen, was für ein Gefühl das ist, nur Zuschauer zu sein.«
Mr Sattersway lächelte. »Ich glaube Ihnen gern, dass Sie sich so etwas nicht vorstellen können. Ihr Platz ist auf der Bühne, im Zentrum. Sie sind immer die Primadonna.«
»Was für eine seltsame Vorstellung.«
»Es stimmt. Sie haben viel erlebt… werden noch viel erleben. Sicherlich, manches war tragisch…«
Ihre Augen verengten sich.
»Wenn Sie länger bleiben, wird man Ihnen die Geschichte von dem Engländer erzählen, dass er jung und stark war und schön und seine junge Frau auf dem Felsen stand und zusah, wie er ertrank.«
»Ich habe sie schon gehört.«
»Jener Engländer war mein Mann. Dies war sein Haus. Er brachte mich her, als ich achtzehn war, und ein Jahr später starb er, von der Strömung auf die schwarzen Felsen geworfen, zerschunden und verstümmelt, zu Tode gequält.«
Mr Sattersway stieß einen entsetzten Ausruf aus. Sie beugte sich zu ihm und starrte ihm mit brennenden Augen ins Gesicht. »Sie sprachen von tragischen Ereignissen. Können Sie sich eine größere Tragödie vorstellen? Eine junge Frau, erst seit einem Jahr verheiratet, muss hilflos zusehen, wie ihr Mann um sein Leben kämpft – und den Kampf verliert. Entsetzlich!«
»Entsetzlich«, wiederholte Mr Sattersway bewegt. »Nichts könnte schlimmer sein.«
Plötzlich lachte sie. Sie richtete sich auf und sagte: »Sie irren sich! Es gibt etwas viel Schrecklicheres: Wenn eine Frau so etwas mit ansehen muss und hofft und betet, dass ihr Mann ertrinken möge.«
»Um Gottes willen!«, rief Mr Sattersway. »Sie wollen doch nicht andeuten…«
»Doch, das tue ich. So war es nämlich in Wirklichkeit! Ich kniete auf dem Plateau, ich kniete da und betete. Die spanischen Angestellten glaubten, ich würde um seine Rettung beten. Nein! Ich betete vielmehr darum, dass ich mir seine Rettung wünschte. Wieder und wieder sagte ich: ›Mein Gott, hilf mir, dass ich ihm nicht den Tod wünsche. Mein Gott, hilf mir, dass ich ihm nicht den Tod wünsche!‹ Doch es nützte nichts. Die ganze Zeit gab ich die Hoffnung nicht auf… und sie wurde wahr…«
Sie schwieg ein paar Augenblicke und fuhr dann in verändertem Ton fort: »Eine schreckliche Geschichte, nicht wahr? So etwas kann man nicht vergessen. Ich war so glücklich, als ich von seinem Tod erfuhr und wusste, dass er mich nicht mehr quälen konnte.«
»Mein armes Kind«, sagte Mr Sattersway erschüttert.
»Ich weiß. Ich war viel zu jung für so eine Erfahrung. So etwas sollte man erst durchmachen, wenn man älter ist, wenn man reifer und gegen derartige Gemeinheiten gewappnet ist. Kein Mensch ahnte, wie er in Wirklichkeit war. Als ich ihn kennen lernte, fand ich ihn wundervoll. Ich war glücklich und stolz, als er um meine Hand anhielt. Doch schon bald ging alles schief. Ständig ärgerte er sich über mich, nichts, was ich tat, passte ihm. Und ich habe mich so bemüht, ihm alles Recht zu machen. Und dann begann er Gefallen daran zu finden, mir wehzutun, mir Angst einzujagen. Das machte ihm vor allem Spaß. Er ließ sich alle möglichen Dinge einfallen – schreckliche Dinge. Ich möchte nicht darüber sprechen.
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