Der Serienmörder von Paris (German Edition)
riskierte zwar Hals und Kragen, Monsieur le Président, doch ich hatte meinen Spaß.“
Leser wollte wissen, ob sich Petiots Bruder keine Sorgen um das Schicksal von Yvan Dreyfus gemacht habe. Der Arzt gab zu, dass Maurice ein Kunde und Freund der Familie gewesen sei und Yvans Vater davon zu überzeugen versucht habe, dass er sich selbst für den Mann einsetzen solle. Letztendlich führte das aber zu keinem Ergebnis. Somit erfuhren die Geschworenen nichts von Nézondets Aussage, dass Maurice behauptet habe, den leblosen Körper von Dreyfus im Juni 1943 auf einem Haufen Leichen im Keller des Hauses seines Bruders gesehen zu haben.
Bevor die Geschworenen Zeit hatten, die Tragödie zu verarbeiten, gab Verteidiger Floriot dem Gericht bekannt, dass eine Gestapo-Akte aus dem Jahr 1943 Dreyfus’ Tätigkeit als „Informant der Gestapo“ bestätige. Laut Floriot gab es nach diesen Informationen „gar keinen Grund, Mitleid für Yvan Dreyfus’ Schicksal zu empfinden“.
Leser, der oberste Staatsanwalt Dupin und der Rechtsanwalt der Familie Dreyfus, Maître Véron, stritten die Behauptung entschieden ab. Véron hinterfragte die Authentizität des Dokuments und erinnerte das Gericht an Dreyfus’ patriotischen Lebenslauf: Wie er 1939 nach Frankreich zurückgekehrt war, um gegen die Deutschen zu kämpfen, und verhaftet worden war, als er sich nach Großbritannien absetzen wollte, um De Gaulles Armee beizutreten.
„Dreyfus war ein viermaliger Verräter: Gegenüber seiner Rasse, seiner Religion, seinem Land, und …“, begann Petiot, bevor Leser, Véron und Dupin lautstark protestierten. Der Korrespondent des Sydney Morning Herald beschrieb die Szene wie folgt: „Petiot wetterte, brüllte, stampfte mit den Füßen auf und erhob die Faust, während sich die Juristen untereinander stritten und ein Handgemenge im Publikum ausbrach.“
In einer überaus angespannten Atmosphäre kehrte Leser zum Fall Kneller zurück, der letzten Entdeckung der offiziellen Ermittlung, bevor man sie im Herbst 1945 eingestellt hatte. Würde Petiot es tatsächlich wagen, Kneller, einen Veteranen der französischen Fremdenlegion, als Kollaborateur zu verunglimpfen. Würde er sogar den siebenjährigen Sohn René als Kollaborateur beschimpfen?
Petiot wandte die übliche Taktik an, auf die Verschwiegenheitspflicht eines Arztes hinzuweisen, da Kurt Kneller sein Patient gewesen war. Doch das Argument begann sich abzunutzen, da die professionelle Verschwiegenheitspflicht ihn in anderen Fällen nicht daran hinderte, alles auszuplaudern.
Dann ließ sich Petiot darüber aus, wie aufopferungsvoll er doch der Familie Kneller geholfen habe. Er habe ihnen falsche Identitäten verschafft, eine davon elsässisch, die andere belgisch, und habe ihnen geraten, für die Führer, die sie über die Grenze schmuggelten, zwei Flaschen Cognac mitzunehmen. Ja, er habe der Familie sogar Geld geborgt, um sich die Bahnkarte nach Orléans zu leisten, dem ersten Abschnitt auf der Fluchtroute. Aufgrund dieser Dienste sowie der Tatsache, dass die Knellers ihm 2.000 Francs schuldeten, habe er sie dann gebeten, ihm die Möbel als Vergütung zu hinterlassen.
Mit Blick auf die unzureichende Kommunikation mit ihm und die Beschreibung ihrer sicheren Ankunft und dem Aufbau eines neuen Lebens meinte Petiot abfällig, sie seien undankbar gewesen. Die Antwort klärte jedoch nicht die Frage, warum die Knellers keine direkten Familienangehörigen benachrichtigt hatten.
Leser fragte nun nach dem Kind.
„Ja, es war ein netter und aufgeweckter Junge“, sagte Petiot.
„An dieser Stelle möchte ich auf das ‚war‘ hinweisen“, meinte Dupin und bemerkte, dass man den Schlafanzug des Jungen in der Rue Le Sueur fand.
Floriot riet seinem Mandanten, nicht zu antworten.
Nichtsdestotrotz äußerte sich der Arzt: „Es muss der Schlafanzug gewesen sein, in dem der Junge in der letzten Nacht in Paris geschlafen hat.“ Wie immer ruhig und besonnen, erklärte er, dass die Familie ihre Reise nicht „mit dreckiger Wäsche“ habe beginnen wollen, vor allem nicht, wenn in dem Kleidungsstück noch die Initialen zu finden waren. Er habe seine Klienten instruiert, keine echten Ausweispapiere bei sich zu tragen und jeden möglichen Hinweis auf die wahre Identität von den persönlichen Gegenständen zu entfernen. Zu dem Schlafanzug sagte er: „Warum hätte ich ihn denn behalten sollen?“
Dupin stand auf, als wäre er endlich bereit, den Arzt in eine Falle zu locken, wie viele vermuteten, und
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