Der Serienmörder von Paris (German Edition)
abzulenken –, sei doch wohl eine maßlose Übertreibung.
Noch bevor Professor Sannié seine Zeugenaussage beenden konnte, verließen einige Journalisten hastig den Gerichtssaal, in der Hoffnung, die Konkurrenten zu übertrumpfen und die Gelegenheit beim Schopfe zu packen, um ein Foto von Frankreichs gefährlichstem Serienmörder beim Eintreffen am Schauplatz der Gräueltaten zu schießen. In der Rue Le Sueur hielten sich schon jetzt die ersten Schaulustigen auf. Die Pariser Zeitungen hatten von der Tatortbegehung berichtet und einen Grundriss des „Hauses des Schreckens“ mitten im eleganten 16. Arrondissement abgedruckt.
Die Rue Le Sueur war abgeriegelt. Um Petiots Haus hatte die Polizei eine große Sicherheitssperre angelegt, vor der 200 Beamte ihren Posten bezogen. Sie stemmten sich gegen die neugierigen und sensationslüsternen Gaffer, die immer wieder nach vorne drängten, um sich einen besseren Blick auf das Spektakel zu sichern. Andere Zuschauer beobachteten das Geschehen von Balkonen oder höher gelegenen Fenstern aus, während sich einige in den nahegelegenen Bistros und Cafés trafen und dort Geschichten von der Grube des Todes und der dreieckigen Kammer verbreiteten.
Kurz vor 14 Uhr – es regnete unaufhörlich – schritten Président Leser, die Magistrate, Floriot, Dupin und die Schar von Verteidigern und Assistenten sowie die Geschworenen die monumentale Treppe des Justizpalastes hinab und stiegen in die insgesamt 15 wartenden Autos. Eine Eskorte von Polizeimotorrädern geleitete die Armada vom Place Dauphine über die Pont-Neuf zum Quai du Louvre, dem Quai du Louvre, dem Quai des Tuileries und danach zum Place de la Concorde. Die stark befahrenen Champs-Élysées vermeidend, manövrierten die Chauffeure ihre Fahrgäste durch eine Vielzahl von Straßen am rechten Ufer, bevor sie den Place de L’Étoile erreichten, dann die Avenue Foch und schließlich die Rue Le Sueur.
Vor der Stadtvilla stieg Petiot, dem man die Handschellen vorne herum angelegt hatte, aus einer schwarzen Limousine, der insgesamt fünften im Tross. Im Nieselregen trug er seinen Tweed-Übermantel mit hochgezogenem Kragen und lächelte in Richtung der Fotografen. Zwei Zivilpolizisten mit heruntergezogenen Hutkrempen flankierten Petiot und eskortierten ihn zum Gebäude. Die Menge sparte nicht mit stichelnden und höhnischen Bemerkungen.
Leser rief das versammelte Gericht mit erhobener Hand zu Petiots Büro. Der Richter, die Geschworenen, die Staatsanwaltschaft, die Verteidigung, die Zivilkläger sowie die vielen Angehörigen folgten Professor Sannié in den Raum. Es folgte die nächste, für das Verfahren charakteristische Panne. Niemand hatte daran gedacht, den Strom wieder anzustellen, und so standen die Juristen im „Haus des Grauens“ mit Kerzen in der Hand. Natürlich gab Petiot einen bissigen Kommentar ab: „Das ist eine wahrhaft erleuchtete Justiz.“
Der Angeklagte wirkte entspannt und ausgeglichen, während Sannié die Beteiligten durch ein Haus führte, das ein Korrespondent der Times als „eine befremdliche Ansammlung teurer Möbel aus dem Zeitalter Ludwigs XVI., menschlicher Knochen und 600 Kriminalromanen“ beschrieb. Pierre Scize vom Le Figaro wählte eine blumigere Beschreibung des verkommenen Hauses mit umgeworfenen Möbeln und aufgerissenen Teppichen. Laut dem Reporter verfüge das Haus über „Wände, die an die Haut eines Leprakranken erinnerten und an die Einrichtung eines zwielichtigen Büros in einem schäbigen Hinterzimmer eines Engelmachers, der zusätzlich mit Drogen handelt“. Die Anwesenden mussten ständig aufpassen, sich die Kleidung nicht durch die Trümmer und den Dreck zu verschmutzen. Eine Person rutschte auf Ratten-Exkrementen aus. Doch fast alle überkam der Eindruck, noch den Geruch von Verwesung wahrzunehmen.
Das Gericht begab sich nun auf den mutmaßlichen Weg eines Opfers. Die dreieckige Kammer war zu klein, und so wurden die Anwesenden in Gruppen aufgeteilt. Als Leser, Dupin, Floriot, Sannié, Petiot und einige Geschworene in dem Raum standen, ging die Kerze aus, doch niemand hatte ein Streichholz dabei. Nach einem bedrückenden Moment in der totalen Finsternis eilte ein Polizist mit einer Taschenlampe zu Hilfe. Ein wichtiges Beweisstück fehlte – der Spion, durch den Petiot die Opfer angeblich beobachtet hatte.
„Wo ist der Spion?“, fragte Floriot.
„Ich weiß es nicht“, antwortete ihm Sannié.
„Das ist doch unfassbar“, antwortete Floriot gereizt und kritisierte
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