Der Serienmörder von Paris (German Edition)
eingegangen, da sich viele Ungereimtheiten gezeigt hatten, von der jede einzelne zu einer Einstellung des Prozesses wegen Verfahrensfehlern hätte führen können. Über die ständig länger werdende Liste von verschwundenen oder verlegten Beweisen hinaus erlaubte sich Leser nun einen weiteren unvergleichlichen Fehler. Die Eingangstür zu Petiots Haus war offengelassen worden! Als ein Mitglied des Gerichts sie hatte schließen wollen, war ihm das aber vom Vorsitzenden verweigert worden. Seiner Auffassung nach war es ein öffentlicher Prozess, und er hatte der Verteidigung keinen Angriffspunkt bieten wollen, indem wichtige Personen eventuell durch einen Zufall ausgeschlossen würden. Da die Tür nun weit offen stand, gelang es den Schaulustigen, die Absperrungen und die Polizeibeamten zu umgehen. Robert Cusin vom L’Aurore verglich den plötzlichen Ansturm mit einer Zuschauermenge, die nach dem Sieg auf ein Rugbyfeld drängte.
Einige Schaulustige rannten ungehindert durch das Haus. „Möchtest du den Ofen sehen?“, fragte ein älteres Pärchen ihre Enkelin. Ein Reporter gelangte so nahe an den besagten Ofen, dass er mit einer Blitzlichtaufnahme sogar die sich im Rost verfangenen Haare ablichten konnte. Ein weiterer Journalist beobachtete verschiedene Gaffer, die schamlos in eine Ecke urinierten.
In Windeseile riss sich die Meute Souvenirs unter die Nägel, wie zum Beispiel einen Aschenbecher aus Petiots Büro, medizinische Broschüren und Fachzeitschriften, einige davon mit Anmerkungen des Arztes an den Rändern. Eine Person machte sich mit einem Exemplar von Célines Bagatelles pour un Massacre [der Text wurde unter anderem mit dem Titel Kleinigkeiten für ein Blutbad übersetzt, A. T.] aus dem Staub, eine andere mit einer frühen Ausgabe von Pascals Werken. Ein Mann wurde dabei beobachtet, wie er aus dem Haus eilte, einen Stapel von Petiots Kriminalromanen und Sachbüchern zur Kriminologie unter dem Arm. Noch eigentümlicher wirkte das Verhalten einiger Leute, die Papiere aus den Fenstern warfen. Doch das war noch lange nicht das Ende der Zirkusvorstellung! Man berichtete sogar, dass Lesers Sohn einen bislang unentdeckten Schienbeinknochen gefunden habe. Ein Fotograf schoss ein Bild von Staatsanwälten, die, wie ein Journalist überrascht bemerkte, „menschliche Schienbeinknochen in den Händen hielten.“ Allerdings ist davon auszugehen, dass einige der angeblichen Knochen größere Stücke ausgehärteten Löschkalks waren, die von der Bergung der Leichen aus der Grube stammten.
Kurz nach 16 Uhr schlängelte sich die „Expedition“ wieder ins Freie, woraufhin einige Schaulustige zu brüllen begannen: „Tod dem Attentäter!“ Floriot und Petiot hatten insgeheim gehofft, dass die Tatortbegehung den Angeklagten in einem sympathischeren Licht erscheinen ließe, doch genau das Gegenteil war eingetreten. Das angeblich für ein Klinikum geplante Haus wirkte keineswegs unschuldig, sondern entsetzlicher und grauenhafter, als man es sich vorgestellt hatte.
DIESE INJEKTIONEN, SAGTE PETIOT, WERDEN UNS FÜR DIE AUGEN DER WELT UNSICHTBAR MACHEN.
(Michel Cadoret de l’Epinguen)
I n der kurzen, noch verbleibenden Zeit des Nachmittags nahm Professor Sannié erneut im Zeugenstand Platz. Maître Jacques Bernays, Rechtsanwalt der Familie Wolff, befragte ihn, ob Petiots Angabe, die dreieckige Kammer für die medizinische Ausrüstung nutzen zu wollen, nachvollziehbar klinge. „Das ist absurd und lächerlich“, antwortete Sannié: Er hätte doch noch nicht mal einen Untersuchungstisch dort hineinquetschen können, geschweige denn eine sperrige Maschine.
Petiot protestierte. Auch wenn der Raum klein sei und er ihn zum Verhör von Gefangenen seiner Organisation benutzt habe, habe er seiner Aussage nach niemals als Folterkerker dienen können. Floriot kam dem Mandanten zu Hilfe und erinnerte das Gericht daran, dass keine Beweise zur Rechtfertigung der Hypothese vorlägen, die Kammer sei zum Foltern oder als Zelle genutzt worden. Es gebe weder Anzeichen eines Kampfes noch eines Fluchtversuchs, was sicherlich der Fall gewesen wäre, hätte die Kammer den vom Gericht angedeuteten Zweck gedient.
„Haben Sie auf einem der Gegenstände, die Sie aus der Rue Le Sueur mitnahmen, Petiots Fingerabdrücke gefunden?“
„Nein, wir haben keine Fingerabdrücke gefunden.“
Das war eine überaus erstaunliche Enthüllung. Nicht nur ließen sich Petiots Fingerabdrücke nicht nachweisen, sogar die sichergestellten konnten mit keiner
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