Der Serienmörder von Paris (German Edition)
HERRSCHAFT DER TIERE HAT BEGONNEN.
(Albert Camus, Tagebuch, 7. September 1939)
M arcel Petiot hatte tatsächlich Drogen verkauft. Im März 1944 nahmen nicht weniger als 95 registrierte Drogenabhängige an seinem „Entgiftungsprogramm“ in der Rue Caumartin teil, angeblich, um durch eine graduell abnehmende Dosierung des toxischen Stoffs Heilung zu erfahren. Petiot hatte sich aufgrund der Behandlungsmethoden einen guten Ruf erworben und galt als sympathischer, mitfühlender Arzt, der auf seine Patienten einging. Das Wartezimmer war ständig überfüllt. Georgette, für die Buchhaltung der Praxis zuständig, hatte niemals zuvor so viel arbeiten müssen.
Wie Massu nun erfuhr, hatte die Brigade Mondaine, eine Spezialeinheit der Kriminalpolizei, die sich neben anderen Delikten mit Prostitution, Beschaffungskriminalität, Pornographie und Drogenmissbrauch auseinandersetzte, eine stattliche Akte über den Arzt angelegt. Zu Beginn des Jahres 1942 hatte man bei einem weiteren Versuch, gegen den blühenden Drogenhandel in dem Pariser Viertel vorzugehen, mehrere vermeintliche Drogensüchtige verhaftet. Unter den in Gewahrsam genommenen Personen war auch ein Patient Petiots. Das an die Verhaftung anschließende Verhör warf einige Fragen zum Verhalten des behandelnden Arztes auf und stellte im Licht der späteren Ermittlung ein bedeutendes Schlüsselelement in der Beweiskette dar.
Der Patient war der 41-jährige Kohlelieferant Jean-Marc Van Bever. Erst wenige Monate zuvor hatte er seine erste geregelte Arbeit gefunden, denn der steigende Bedarf an Kohlen zum Heizen von Büros und Appartements stellte eine sichere Einnahmequelle dar. Davor hatte der Mann sein großes Erbe in einige Druckereien investiert, die alle den Bankrott erklären mussten. Van Bever verbrachte einen Großteil der dreißiger Jahre in bitterer Armut und hielt sich nur mit Hilfe der Wohlfahrt und verschiedener Wohltätigkeitsverbände über Wasser. Für einen Mann, der einstmals solch einen Wohlstand genossen hatte, stellte das eine unerwartete Entwicklung dar.
Nach seinem Abschluss am prestigeträchtigen Lycée Louis-le-Grand hatte Van Bever an der Universität verschiedene Fächer studiert, darunter zwei Semester Jura. Er sprach Englisch und einige Brocken Spanisch und Italienisch. Sein Vater, Adolphe Van Bever, war der Mitherausgeber einer Anthologie französischer Dichter, die viel Beachtung fand, und sein Großonkel der bekannte Maler La Quintinie.
Bei der Festnahme protestierte Van Bever und behauptete, selbst kein Süchtiger zu sein. Er habe sich wegen der Beziehung zu der Prostituierten Jeannette Gaul lediglich in dem Milieu herumgetrieben. Die 34-jährige Gaul wiederum litt unter einer schweren Morphiumsucht. Darüber hinaus war sie abhängig von Heroin, also von einem der stärksten Derivate des Morphins. Heroin gehörte in Paris zu den beliebtesten Drogen, nachdem die ursprüngliche Nutzung zur Unterdrückung des Hustens und zur Behandlung verschiedener Krankheiten der Lungenwege, die von der Bronchitis bis zur Lungenentzündung reichten, fast schon in Vergessenheit geraten war. Sowohl Morphium als auch Heroin zirkulierten in der zwielichtigen Halbwelt, besonders unter Prostituierten, die damit der brutalen Realität des Gewerbes entfliehen wollten.
Nachdem sie als Zimmermädchen bei einer Familie in Fontainebleau und später in verschiedenen Bordellen unter anderem in Nantes, Clamecy und Auxerre gearbeitet hatte, zog sie kurz nach der Besetzung nach Paris. Ihr letzter Zuhälter, Henri „der Knastbruder“ Baldenweek, ließ sie im Stich, woraufhin sie auf dem Straßenstrich anschaffen musste, eine der dominierenden Arten der Prostitution während der deutschen Besatzung und gleichzeitig die gefährlichste, da die Frauen praktisch schutzlos ihrem Geschäft nachgehen mussten. Im November 1941 begegnete Gaul Van Bever unweit der Kirche La Madeleine. Nach drei Wochen, in denen sie sich regelmäßig trafen, fragte er, ob sie zu ihm ziehen wolle, und zwar in ein angemietetes kleines Zimmer in der Rue Piat 56 im 20. Arrondissement. Sie versprach daraufhin, ihre Arbeit aufzugeben. Das war zwei Tage vor dem Weihnachtsfest 1941.
Gaul konnte sich trotz der Beziehung allerdings nicht von der Sucht losreißen. Um an Betäubungsmittel zu gelangen, trickste sie das Gesundheitssystem aus, das sich angesichts der Kriegswirren in einem chaotischen Zustand befand, und beschaffte sich von verschiedenen Ärzten Heroin-Rezepte. Petiot war einer von ihnen. In
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