Der Serienmörder von Paris (German Edition)
eine Legende auf seinem Fachgebiet und auch ein gern gesehener Gast der besseren Kreise der Pariser Gesellschaft, wo man ihn wegen der vielen Geschichten kannte, die er meist mit einem makabren Sinn für Humor erzählte. Kommissar Massu hatte großen Respekt vor dem Mann, den man „den Doktor der 100.000 Autopsien“ nannte. Die zwei hatten sich bereits vor 32 Jahren zum ersten Mal getroffen, im Frühjahr 1912, als beide noch ganz am Anfang ihrer Karriere standen – Massu bei der Brigade und Paul in der alten Gerichtsmedizin am Quai de l’Archevêché, bevor er nach dem Krieg seine Arbeit am Institut aufnahm. Massu erkannte schnell, dass der Leichenbeschauer ein empfindlicher Exzentriker war, der lange Fragen hasste und „Quasselstrippen“ auf den Tod nicht leiden konnte. Wenn Massu mit dem temperamentvollen Experten arbeitete, behielt er das stets im Hinterkopf.
Beim Fall Petiot assistierte Paul ein talentiertes Forensikerteam, bestehend aus den beiden Professoren Léon Dérobert vom Naturkundemuseum und René Piédelièvre von der medizinischen Fakultät der Universität von Paris. Sowohl Dérobert als auch Piédelièvre zählten zu den anerkanntesten Kapazitäten bei der Rekonstruktion fossiler Überreste und verfügten somit über ein Fachwissen, welches sich in diesem Fall als überaus wertvoll herausstellte. Paul hegte schon von Anfang an den Verdacht, dass die Arbeit an dem Fall weitaus komplizierter sein würde als bei Landru.
Die Gerichtsmedizin erhielt den Auftrag, die Opfer zu identifizieren, und zwar aus einer grauenhaften Masse verwester und verstümmelter Überreste, die man aus der Grube, dem Ofen und dem Keller in der Rue Le Sueur geborgen hatte. Dabei mussten sie Arme, Beine, Torsi und Oberschenkel wie bei einem Puzzle zusammenfügen, was der Arbeit an einem Dinosaurierskelett für das Museum ähnelte. Die Wissenschaftler sollten im günstigsten Fall die Anzahl der Opfer ermitteln, das Alter und das Geschlecht sowie die Todesursache und den Todeszeitpunkt. Ihre Berichte zählten zu den wichtigsten Beweismitteln für die Beamten, die nach jedem sich bietenden Strohhalm griffen, um die grundlegenden Fakten zu klären.
Paul arbeitete wie ein Besessener und durchsuchte einen riesigen Haufen von „Oberschenkelknochen, Schädeln, Schienbeinknochen, Rippen, Fingerknochen, Kniescheiben und Zähnen“, die auf seinem Marmortisch lagen. Er konnte zwei beinahe vollständige Skelette und zwei halbe Torsi rekonstruieren. Bei vielen Fundstücken konnten Knochengruppen bestimmt werden, wie zum Beispiel zehn Schlüsselbeinknochen, neun Brustbeinknochen, sechs Schulterblattknochen und ein komplettes Becken, doch meist standen den Wissenschaftlern nur Fragmente zur Verfügung, zu klein oder deformiert, um identifiziert zu werden. Dr. Paul und seine Kollegen fanden so viele Einzelstücke, dass man laut Arzt damit „drei Mülltonnen“ füllen konnte. Doch nicht nur Knochen lagen in dem grausigen Haufen – auch Kopfhäute mit Haaren. Diese ergaben zusammen ein Gewicht von beinahe fünf Kilogramm.
„Es ist keine Autopsie“, meinte Paul. „Es ist ein Puzzle.“ Ein Puzzle – oder wie die Ermittler schon bald erkennen sollten – verschiedene Puzzles mit vielen fehlenden Teilchen.
ICH BIN EIN KENNER DER MENSCHLICHEN BESTIMMUNG UND ALL IHRER MYSTERIEN, GLAUBEN SIE MIR. NEHMEN SIE IHRE CHANCE WAHR. SIE LIEGT DIREKT VOR IHNEN.
(Jean Cocteau, An die jungen Schriftsteller , La Gerbe , 5. Dezember 1940)
N ur einen Steinwurf von Petiots Appartement in der Rue Caumartin entfernt lehrte Jean-Paul Sartre am Lycée Condorcet Philosophie. Die Veranstaltungen fanden während des Semesters an dreieinhalb Wochentagen statt. In der vorlesungsfreien Zeit genoss Sartre die Ruhe in einem der zahlreichen Cafés der Stadt. Im Frühjahr 1944 ließ er sich gerne in dem kaum bekannten Café de Flore im Viertel Saint-Germain-des-Prés blicken, das er schon früh am Morgen aufsuchte. Er setzte sich dort an seinen Tisch im hinteren Teil der zweiten Etage. Der kleine Mann mit schon schütterem Haar und einer Brille nahm in einem roten Stuhl Platz, zog an der Pfeife und raste mit dem Füllfederhalter förmlich über das Papier, um seine Gedanken in kleinen, zierlichen Buchstaben festzuhalten. Wegen des Kriegs gab es nur wenig Tabak, und so unterbrach Sartre zeitweise das Schreiben, um vom Boden Zigarettenkippen aufzusammeln und sich die Pfeife zu stopfen.
Am anderen Ende des Raums, neben dem Ofen an einem Mahagonitisch mit einer
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