Der Serienmörder von Paris (German Edition)
Stromstößen. Hierbei brachte man Kontakte an den Händen, Füßen und Ohren an, die zum Penis und zum Rektum führten. Es gibt jedoch keine Hinweise, dass Petiot die zuletzt genannten Foltern ertragen musste, doch sie gehörten, ebenso wie verschiedene Arten des Auspeitschens, die Schädelquetsche oder das Eisbad, zu den gängigen „Befragungsmethoden“, die die Gestapo in allen Teilen des besetzten Europas anwandte. Die Prozedur nannten die Deutschen ironisch „einen Gefangenen alle Stationen tanzen lassen“.
Petiot wurde dann in das Gefängnis in Fresnes geworfen, ein weißes Steingebäude, ungefähr zehn Kilometer von Paris entfernt, das zu dem Zeitpunkt das größte Gefängnis Kontinentaleuropas war, berüchtigt für die gleichzeitige Unterbringung von Résistance-Kämpfern, gefangenen britischen Agenten und weiteren Feinden des Dritten Reichs. Man warf Petiot in Zelle 440 im vierten Stock des ersten Flügels.
In den kleinen Zellen befanden sich ein Stuhl, ein Tisch und eine eiserne Pritsche an der Wand, auf der eine erbärmliche Strohmatratze lag, oft von Flöhen und anderem Ungeziefer verunreinigt. Neben dem Tisch stand eine offene Toilette. Ein einzelner Wasserhahn ragte aus der Wand. Manchmal stand etwas auf der Wand oder war eingeritzt worden, was einen Einblick in die Gemütslage des Gefangenen ermöglichte. Viele von ihnen nahmen ihre ganze Kraft zusammen, um sich vor dem nächsten Verhör noch auf der Wand zu verewigen.
In Zelle 44 des zweiten Flügels hatte der amerikanische Sergeant H. Hilliard seinen Namen, das Datum „Juni 1943“ und die Worte „God bless America“ in das Mauerwerk geritzt. Guy Gauthier (alias André Nantais) vom Résistance-Netzwerk Franc-Tireurs et Partisans (FTP), untergebracht in Zelle 205 des zweiten Flügels, schrieb: „Lebe frei oder sterbe kämpfend. Frankreich wird sich befreien.“ In Zelle 147 beklagte man den Tod von „Mazera Dédé, unschuldiges Opfer der Gestapo“. Ein anderer Häftling hatte in Zelle 34 ein Herz mit einem Pfeil an die Wand gemalt, dazu die Buchstaben R und L. Er fügte nicht „Vive de Gaulle“ hinzu, sondern „Vive la fin de la guerre“.
Wie fast alle Verhafteten trennte man Marcel Petiot und René Nézondet schon bei der Ankunft. Nézondet sah den Freund erst acht Tage später wieder, als beide Männer vor dem Haupteingang des Gefängnisses standen und auf die Abfahrt ins Gestapo-Hauptquartier warteten, wo sie erneut verhört werden sollten. Nézondets Aussage nach machte Petiot einen erbärmlichen Eindruck. Er stand dort in Handschellen und Fußfesseln und „schien größte Schwierigkeiten zu haben, sich zu bewegen. Sein Oberkörper war gebeugt, und er tupfte den Kopf ständig mit einem nassen Taschentuch ab.“
Was hatte Petiot der Gestapo letztendlich gesagt? Seinem Geständnis nach, das er unter Zwang unterzeichnen musste, war er nicht der Anführer der Fluchthelferorganisation. Er behauptete, einem Patienten namens Robert Martinetti oder der „Martinetti-Organisation“ behilflich gewesen zu sein.
Er hatte die Arbeit – so zumindest erzählte er es den Fragestellern – eines Tages im August aufgenommen, als der obskure Martinetti ihm von einer Fluchtroute nach Südamerika berichtete und sich erkundigte, ob einer von Petiots Patienten die Möglichkeit in Anspruch nehmen wolle. Monate darauf unterhielt sich Petiot mit einem seiner Patienten, dem Friseur Raoul Fourrier (er hieß eigentlich Charles Fourrier), der sich bereit erklärte, Personen aufzunehmen, die Paris verlassen wollten. Petiot traf die potenziellen Kunden vor dem Métro-Eingang in der Rue de Rivoli oder – als Ausweichmöglichkeit – vor der Station Saint-Augustin. Von hier aus brachte er sie zu besagtem Martinetti. Der Preis lag zuerst bei 25.000 Francs und wurde später auf 50.000 Francs, oder, je nach Einzelfall, sogar noch weiter erhöht.
Die ersten Flüchtlinge hatten laut Petiot Paris Ende 1942 verlassen, wobei er angeblich nichts über weitere Details zur Organisation sagen konnte, auch nicht über den Fluchtweg und die Verstecke. „Ich wusste lediglich – und durfte gar nicht mehr wissen –, wer Martinetti war und wie man ihm die Fluchtwilligen zuführte.“ Auf die Frage, warum er denn mit Dreyfus gesprochen habe, wenn er doch nur ein kleines Rädchen im Getriebe gewesen sei, erwiderte Petiot, dass er gegenüber den von Fourrier ausgewählten Personen zunehmend skeptischer wurde. Er riss daraufhin die Prüfung der jeweiligen Kandidaten an sich
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