Der Serienmörder von Paris (German Edition)
und entschied, ob sie für so eine Flucht geeignet waren oder nicht.
„Ich habe nie wieder erlebt, dass man eine der Personen an Martinetti weiterleitete“, erklärte Petiot. Und er habe nicht gewusst, wie man zum Anführer durchdringen könne, denn dieser habe den Kontakt stets durch einen Praxisbesuch oder einen Anruf hergestellt. Eigentlich hätte der Gestapo die offensichtlich vorgetäuschte Unwissenheit auffallen müssen, doch aus der Akte war nicht zu entnehmen, dass die Beamten der Unstimmigkeit auf den Grund gingen.
Der von den Briten ausgebildete Résistance-Kämpfer Leutnant Richard Héritier, ein Zellengenosse Petiots, behauptete später, davon überzeugt gewesen zu sein, dass Petiot zu einem innerhalb der französischen Résistance aktiven Netzwerk gehört habe. Darüber hinaus schockierte ihn die unverfrorene Respektlosigkeit Petiots gegenüber den Wachen, die er mit Schimpfwörtern bombardierte. Er verhielt sich so, als wäre ihm alles egal. Interessanterweise wurde Petiot nicht deportiert, bestraft oder im Rahmen einer Vergeltungsaktion der Deutschen hingerichtet. Am 13. Januar 1944 holte man den Arzt vielmehr aus seiner feuchten und kalten Zelle und ließ ihn laufen. Weniger als zwei Monate später entdeckte man die Leichen in der Rue Le Sueur.
Aus der vor ihm liegenden Akte konnte Massu nichts über die rätselhafte Entlassung aus dem Gefängnis entnehmen. War – worauf Jodkum später hinwies – die Tatsache entscheidend gewesen, dass die Gestapo glaubte, Petiot sei ein komplett Wahnsinniger? Gelang es der Gestapo – wie auch in anderen Fällen – den Gefangenen „umzudrehen“ und für sich arbeiten zu lassen? Gründete darin das Gefühl der Unverwundbarkeit, durch das er sich erdreistete, die Deutschen zu beschimpfen? Hatte Petiot, wie er selbst behauptete, solch eine Hartnäckigkeit an den Tag gelegt, dass die Leitung der Gestapo es als effektiver erachtete, den Arzt freizulassen und ihn zu beobachten, um somit mehr über seine Aktivitäten zu erfahren?
Die französische Polizei fand dank Germaine Barré, einer Agentin des British Secret Intelligence Service (SIS), später heraus, dass Jodkum Petiot anbot, sich für 100.000 Francs freizukaufen. Während Germaine auf ihr eigenes Verhör wartete, belauschte sie das Gespräch mit eigenen Ohren. Petiot lehnte ab, da er angeblich an Magenkrebs erkrankt war und es ihm egal war, ob er freigelassen wurde oder nicht. Jodkum wandte sich daraufhin an Petiots Bruder Maurice, der das Lösegeld unverzüglich zahlte.
Die Zeugenaussage wirft die Frage auf, warum sich die Gestapo bereit zeigte, Petiot aus der Haft zu entlassen, und warum sie so wenig Geld forderte. Stand er unter dem Schutz der Deutschen? Und falls ja, wer kümmerte sich um sein Wohlergehen? War es eine Einzelperson oder eine Behörde? Die Gestapo-Akte half Massu bei der Klärung des Falls, warf aber gleichzeitig viele Fragen zu dem Mordverdächtigen auf, zur Identität der auf seinem Grundstück gefundenen menschlichen Überreste und natürlich vor allem zum Motiv für die Taten.
Am 15. März 1944, die Akte noch in der Hand, befahl Massu die Verhaftung des Friseurs Raoul Fourrier und des Visagisten Edmond Pintard. Einige Stunden darauf – Massu versuchte gerade, seine Gedanken zu ordnen, die sich ständig um den düsteren und zunehmend verwirrenden Fall drehten – trat ein Mann mittleren Alters mit der Polizei in Kontakt. Er hatte von der grausigen Entdeckung in der Rue Le Sueur in der Zeitung gelesen.
MANCHMAL KANN ICH EINFACH NICHT ANDERS. DANN PACKT MICH DAS GRAUEN, WENN ICH AN DIE BILDER DENKE, DIE SICH MIR IM HAUS IN DER RUE LE SUEUR BOTEN.
(Kommissar Massu)
J ean Gouedo, der Mann, der in Massus Büro erschien, besaß ein Geschäft für Ledermode und Pelze direkt gegenüber von Petiots Wohnung in der Rue Caumartin. Er hatte die Boutique 1941 von seinem Freund und ehemaligen Geschäftspartner Joachim Guschinow übernommen, einem damals 42-jährigen, in Polen geborenen Juden, den die Entwicklungen im besetzten Paris in Angst und Schrecken versetzten. Natürlich musste Gouedo nicht erklären, warum Guschinow sein Leben in ständiger Furcht verbrachte.
Am 27. September 1940 zwang ein neues Gesetz Guschinow und alle jüdischen Geschäftseigentümer, das schwarz-gelbe Emblem mit dem sogenannten Judenstern anzubringen, das die Boutique eindeutig identifizierte: JÜDISCHES GESCHÄFT. Im folgenden Monat zählte Guschinow zu den 7.737 jüdischen Geschäftsinhabern, dazu kamen dann
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