Der Sichelmoerder von Zons
Innerstes durchforsten und alle seine Gedanken lesen. Bastian schüttelte unwillkürlich seinen Kopf. Er schlang die letzten Fleischbissen von der großen Holzplatte hinunter und erhob sich. Er musste dringend hier raus, weg von dieser unheiligen Bruderschaft.
„Nichts für ungut, Wernhart, ich habe Marie versprochen, nicht so spät nach Hause zu kommen. Wir sehen uns morgen bei Sonnenaufgang am eingestürzten Wehrturm.“
Bastian nickte dem Arzt noch kurz zum Abschied zu und steuerte, ohne die Bruderschaft eines weiteren Blickes zu würdigen, auf die Schenkentür zu. Dann verschwand er in der Dunkelheit.
IV
Gegenwart
Konzentriert betrachtete Kommissar Oliver Bergmann den Fußknochen oder vielmehr das, was davon übrig geblieben war. Das Skelettteil bestand nur noch aus zwei Zehenknochen, wobei die oberen Glieder fehlten. Die Glieder der drei großen Zehen waren vollständig abgetrennt worden. Oliver blätterte im Laborbericht. Die Schnittstellen waren relativ glatt und wiesen nur wenig gezackte Ränder auf. Damit fielen Sägen oder Messer mit grobem Sägeblatt als Tatinstrument von vorneherein aus. Oliver biss sich auf die Lippen und kratzte sich gedankenversunken am Hinterkopf. Dieser Fall war ihm suspekt. Vor ein paar Tagen hatten sie einen Anruf von einem jungen Liebespärchen bekommen, welches beim Picknick in den Rheinauen des kleinen mittelalterlichen Städtchens Zons auf diesen Knochenfund gestoßen war. Zuerst hatte niemand die beiden so richtig ernst nehmen wollen. Die Knochen sahen ziemlich ramponiert und alt aus. Da im gut erhaltenen Zons in der Vergangenheit schon oft Ausgrabungen stattgefunden hatten, war ein Knochenfund zunächst keine weltbewegende Neuigkeit.
Erst vor Kurzem waren bei der Umgestaltung des Museumsvorplatzes gut erhaltene Reste eines größeren Kellergewölbes gefunden worden. Bis heute hatte man noch nicht herausgefunden, wann dieses Kellergewölbe entstanden war. Da der Museumsvorplatz bis Anfang des 19. Jahrhunderts der Marktplatz von Zons war, gingen die Experten davon aus, dass das entdeckte Kellergewölbe auf alle Fälle aus der Zeit davor, dem 17. oder 18. Jahrhundert stammen musste. Es konnte allerdings genauso gut sein, dass das Gewölbe wesentlich älter war.
Oliver erinnerte sich an eine spannende Reportage über Zons, die er vor ein paar Wochen gelesen hatte. Bei einer der größeren Ausgrabungen in den Achtzigerjahren wurden 261 menschliche Skelette im Bereich der Schlosses Friedestrom gefunden. Anhand der Überreste konnten die Archäologen feststellen, dass es in Zons im Mittelalter einen deutlichen Männerüberschuss gegeben hatte. Nur bei wenigen der gefundenen menschlichen Überreste ließen sich Spuren von Gewalteinwirkung nachweisen. Die Zonser Bevölkerung war überdurchschnittlich alt und für die schlechten hygienischen Verhältnisse im Mittelalter erstaunlich gesund gewesen. Selbst die Kindersterblichkeitsrate lag mit nur 18 Prozent weit unter dem mittelalterlichen Durchschnitt.
Ein kleines Lächeln schlich sich in Olivers Gesicht. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, hätte er diese Reportage sicherlich niemals gelesen. Der eigentliche Grund, warum er angefangen hatte, sich für historische Ereignisse zu interessieren, war Emily. Seit er sie während der Untersuchungen seines letzten großen Mordfalls kennengelernt hatte, musste er ständig an sie denken. Alles was nur im Entferntesten mit ihrer Person in Bezug stand, sog er auf wie ein Schwamm. Egal, ob es sich um ihre italienische Herkunft, ihr Lieblingsessen oder ihre geschichtlichen Kenntnisse handelte. Ohne Emily hätten die Ermittlungen damals sicherlich wesentlich länger gedauert. Als eine äußerst talentierte Journalismus-Studentin an der Universität zu Köln, war sie mittlerweile zu einer kleinen lokalen Berühmtheit geworden. Emily hatte für die Rheinische Post eine dreiteilige Reportage über den Puzzlemörder von Zons geschrieben, der im 15. Jahrhundert auf bestialische Art und Weise mehrere Frauen vergewaltigt und ermordet hatte. Dank ihrer detaillierten Kenntnisse über diese historischen Mordfälle war Oliver, gemeinsam mit seinem Partner Klaus, damals recht schnell in der Lage gewesen, einen Nachahmungstäter zu fassen, der urplötzlich in Zons auftauchte und Angst und Schrecken verbreitete.
Oliver wandte sich wieder dem Rest des Fußknochens zu, der in eine durchsichtige Plastiktüte verpackt, vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Das Fundstück hatte eine hässliche gelbe
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