Der Sichelmoerder von Zons
gebildet. Seine Haut wirkte unnatürlich grau und verschwitzt. Eine Armada an grauen Haaren entstellte seine ursprüngliche, glanzvolle, brünette Haarpracht. Sein Alter, der mangelnde Sport und der Stress, den die Leitung des Unternehmens mit sich brachte, waren nicht mehr zu übersehen. Egal! Er würde gleich einen guten Eindruck hinterlassen müssen. Schließlich war diese neue Bankberaterin sein letzter Rettungsanker, um die bevorstehende Insolvenz vielleicht doch noch abwenden zu können.
...
Verfluchter Mist! Ihr Navigationssystem hatte Anna wieder in die Irre geführt. Sie hatte die falsche Ausfahrt von der Autobahn genommen und durfte jetzt einen fast zehn Kilometer langen Umweg fahren, bevor sie wenden und wieder in die richtige Richtung fahren konnte. Sie hasste es, unbekannte Wege zu fahren. Panisch blickte sie auf die Uhr im Display hinter ihrem Lenkrad. Es war schon kurz vor 15 Uhr. Sie würde viel zu spät zu ihrem neuen Kunden kommen!
Anna wusste, dass ihr Kunde nicht über die von der Bank vorgegebene Kreditwürdigkeit verfügte. Das Ergebnis der Bonitätsprüfung, welches sie von der Abteilung für Risikomanagement erhalten hatte, war eindeutig. Aber sie brauchte dringend einen neuen Geschäftsabschluss. Ohne die Erreichung der Zielvorgaben war ihr lang ersehnter Bonus in Gefahr. Vielleicht würde sie ein sogenanntes Kombigeschäft abschließen können. „Cross selling“ war das neue Lieblingsschlagwort ihres Chefs.
Verdammt! Anna trat heftig auf die Bremse. Ein BMW hatte sie von rechts überholt und sich in den Sicherheitsabstand zu dem Fahrzeug vor ihr hineingedrängelt. Das war knapp! Annas Puls stieg innerhalb von Sekunden auf mindestens 140 Schläge pro Minute an. Adrenalin schoss durch ihre Blutbahnen und ihr Herz raste wie verrückt. Ihr war trotz der laufenden Klimaanlage heiß und ihr Magen fühlte sich flau an. Nur gut, dass sie nicht viel gegessen hatte. Vor lauter Wut schlug sie mit der flachen Hand heftig auf die Hupe.
Dreißig Minuten später hatte Anna es endlich geschafft. Ihr Fahrzeug stand auf einem riesigen, kaum genutzten Parkplatz. Sie sah sich um. Überall wucherte Gestrüpp aus den Plattenfugen des Platzes hervor. Hier hatte seit Monaten kein Gärtner mehr Hand angelegt. Das Bürogebäude vor ihr wirkte solide. Es stammte aus den Siebzigerjahren. Im Gegensatz zum Parkplatz wies das Gebäude jedoch keinerlei Ungepflegtheiten auf. Die Fenster waren sauber und reflektierten strahlend das helle Sonnenlicht. Anna schirmte ihre Augen mit einer Hand ab, um nicht geblendet zu werden. Sie griff nach ihren Unterlagen auf dem Beifahrersitz und blätterte noch einmal in der Kundenakte. Das Gespräch würde sicher nicht einfach werden. Sie hatte diesen Kunden von einem Kollegen übernommen, der vor einigen Wochen fristlos von ihrer Bank entlassen worden war. Er hatte die überwiegende Anzahl seiner Kunden in die Pleite getrieben, weil er ihnen stark risikobehaftete, strukturierte Finanzprodukte verkauft hatte, die den Bedürfnissen der jeweiligen Kunden gar nicht gerecht wurden. Massenhaft hatte er sogenannte „Currency-Related-Swaps“ verkauft. Viele Banken waren in den letzten Monaten wegen dieser Swap-Geschäfte von der Presse kritisiert worden und mittlerweile gab es diverse Gerichtsprozesse, in denen Kunden sich gegen die Fehlberatung wehrten. Eine der großen deutschen Banken hatte ihren ersten Prozess bereits verloren und musste nun Schadensersatz in Millionenhöhe zahlen. Zum Leid der betroffenen Kunden zogen sich die meisten dieser Gerichtsprozesse jedoch so extrem in die Länge, dass viele trotzdem in die Insolvenz gehen mussten.
Anna warf einen letzten Blick auf die Liquiditätsanalyse ihres Kunden. Ihr erstes Gefühl sagte ihr, dass er nicht mehr viel Luft hatte. Vielleicht konnte sie ihm helfen! Sie stieg aus ihrem Wagen aus, schlug schwungvoll die Wagentür zu und ging graziös auf den Haupteingang des Gebäudes zu.
Die Empfangsdame, die direkt hinter der verspiegelten Eingangstür, die sich automatisch vor Anna geöffnet hatte, saß, empfing sie mit einem glanzlosen Lächeln. Sie war mittleren Alters und wirkte alles andere als repräsentativ. Ihre Haare hingen kraftlos vom Kopf herunter und ihre Haut wirkte so aschfahl, als wäre sie jahrelang nicht mehr in der Sonne gewesen. Sie blickte Anna mit völligem Desinteresse in die Augen und sprach mit einer dünnen tonlosen Stimme, die eher an eine Computerstimme, denn an einen Menschen
Weitere Kostenlose Bücher