Der siebente Sohn
streckte sie so vorsichtig aus, wie er konnte, und berührte Lolla-Wossikys Wange unter dem kaputten Auge. Nein, das war nicht richtig. Er hob den Finger, bis er das schlaffe Augenlid berührte, dort, wo das andere Auge des Roten sein mußte. Ja, dachte er. Sei ganz.
Die Luft knisterte. Lichtfunken. Al stöhnte auf und riß die Hand zurück.
Alles Licht war aus dem Raum verschwunden. Nun kam nur noch das Mondlicht durch das Fenster herein. Von der Helligkeit war nicht einmal mehr ein Glimmern übrig. Ganz so, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht.
Alvins Augen brauchten eine Minute, um sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Es war kein Traum, soviel war sicher. Denn dort stand der Rote, der einst der leuchtende Mann gewesen war. Man träumt nicht, wenn neben dem Bett ein Roter Mann kniet, aus dessen gesundem Auge die Tränen hervorströmten, während das andere Auge, wo man ihn gerade berührt hatte…
»Es hat nicht geklappt«, flüsterte Alvin. »Es tut mir leid.«
Es war mehr als schändlich, daß der leuchtende Mann ihn von seiner schrecklichen Bösartigkeit errettet hatte, aber er hatte nichts für ihn tun können. Der Rote Mann sagte jedoch kein Wort des Vorwurfs. Statt dessen griff er mit beiden großen, kräftigen Händen nach Alvins nackten Schultern und drückte ihn eng an sich, küßte ihn auf die Stirn, hart und fest, wie ein Vater seinen Sohn oder wie wahre Freunde vor dem Tag, da sie sterben werden. Dieser Kuß und alles, was er enthielt, Hoffnung, Vergebung, Liebe – laß mich ihn niemals vergessen, sagte Alvin stumm.
Lolla-Wossiky sprang auf die Beine, bewegte sich flink wie ein Junge, gar nicht wie ein Betrunkener. Verändert, er war tatsächlich verändert. Alvin kam der Gedanke, daß er möglicherweise doch etwas geheilt hatte, etwas, das tiefer ging als diese Augen. Vielleicht hatte er ihn von der Gier nach Whiskey befreit.
Doch wenn das stimmte, so wußte Al doch, daß nicht er selbst dieses Wunder vollbracht hatte. Es war das Licht gewesen, das sich für eine Weile in ihm befunden hatte; das Feuer, das ihn gewärmt hatte, ohne ihn zu verbrennen.
Der Rote Mann stürzte zum Fenster hinüber, schwang sich über den Sims und verschwand. Alvin hörte nicht einmal, wie seine Füße draußen den Boden berührten, so leise war er.
Wie lange hatte das gedauert? Stunden über Stunden? Würde bald der Tag anbrechen? Oder waren nur wenige Augenblicke verstrichen, seit Anne ihm etwas ins Ohr geflüstert und die Familie sich beruhigt hatte?
Nicht so wichtig. Alvin konnte nicht schlafen, nicht nach alledem, was passiert war. Warum war dieser Rote zu ihm gekommen? Was hatte all das zu bedeuten, das Licht, das Lolla-Wossiky erfüllt hatte und dann auch ihn? Er konnte einfach nicht hier im Bett liegenbleiben, so erregt, wie er war. Also stand er auf, glitt so schnell er konnte in sein Nachthemd und schlüpfte aus der Tür.
Draußen im Gang hörte er Stimmen. Mama und Papa unten waren noch immer auf. Zunächst wollte er hinunterstürzen und ihnen erzählen, was ihm alles geschehen war. Doch dann bemerkte er, wie sie sich unterhielten; voller Zorn und Furcht. Keine gute Zeit, um ihnen von einem Traum zu erzählen. Auch wenn Alvin wußte, daß es überhaupt kein Traum gewesen war, sie würden es wie einen Traum behandeln. Und nun, da er richtig darüber nachdachte, wußte er, daß er ihnen überhaupt nichts davon erzählen durfte. Sollte er etwa sagen, daß er die Schaben ins Zimmer seiner Schwester geschickt hatte? Dann würde alles herauskommen, die Nadeln, das Gepieke, die Drohungen, auch wenn es für Alvin schon Monate, ja Jahre her war. Nichts davon spielte jetzt noch eine Rolle, verglichen mit dem Eid, den er geleistet hatte, und der Zukunft, die vor ihm lag – aber für Mama und Papa würde es eine Rolle spielen.
Also schlich er sich auf Zehenspitzen den Gang und die Treppe hinunter, gerade so weit, um zuhören zu können, ohne entdeckt zu werden.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis er sich näher herantraute. Er kroch weiter hinunter, um in den großen Raum spähen zu können. Papa saß auf dem Boden, von Holz umgeben. Al Junior war überrascht, daß Papa noch immer das Holz untersuchte, selbst nachdem das Unglück mit den Schaben geschehen war. Er hatte sich inzwischen vorgebeugt, das Gesicht in den Händen vergraben. Mama kniete vor ihm, zwischen ihnen lagen die größten Holzstücke.
»Er lebt, Alvin«, sagte Mama. »Alles andere ist unwichtig.«
Papa hob den Kopf und sah sie
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