Der siebente Sohn
Aber Al hatte Worte und Gedanken, und er wußte besser als jede Schabe, was die Schaben gelernt hatten. Man hatte ihnen etwas in dieser Welt versprochen, man hatte sie sich dessen sicher gemacht, und dann war es eine Lüge gewesen. Der Tod war etwas Fürchterliches, ja, fliehe diesen Raum; aber im anderen Raum war noch etwas Schlimmeres als der Tod – dort war die Welt verrückt geworden, ein Ort, wo alles passieren konnte und wo man niemandem mehr trauen durfte.
Dann endete die Vision. Alvin saß da, die Hände auf die Augen gepreßt, verzweifelt schluchzend. Sie haben gelitten, schrie er stumm heraus, und ich habe es ihnen angetan, ich habe sie verraten. Deshalb ist der leuchtende Mann gekommen, um mir das zu zeigen. Ich habe gemordet.
Nein, nicht gemordet! Wer hätte jemals gesagt, daß das Töten von Schaben Mord war?
Aber es spielte keine Rolle, wie andere Leute darüber dachten, überlegte Al. Der leuchtende Mann war gekommen, um ihm zu zeigen, daß Mord Mord war.
Und nun war der leuchtende Mann verschwunden. Als Al die Augen öffnete, war niemand mehr im Raum außer Cally, der fest schlief. Er konnte auch nicht mehr Vergebung bitten. In schierer Pein schloß Al Junior die Augen und weinte noch etwas.
Wie lang war das her? Ein paar Sekunden? Oder war Alvin eingeschlafen und hatte nicht bemerkt, wieviel Zeit verstrichen war? Egal wie lang – jedenfalls kam das Licht zurück. Wieder drang es in ihn hinein, nicht nur durch seine Augen, sondern bis in sein Herz, flüsterte ihm zu, beruhigte ihn. Wieder öffnete Alvin die Augen, schaute das Gesicht des leuchtenden Mannes und wartete darauf, daß er etwas sagen würde. Als er nichts sagte, glaubte Alvin, daß er an der Reihe sei, also stammelte er ein paar Worte; sie waren so schwach im Vergleich zu den Gefühlen in seinem Herzen. »Es tut mir leid, ich werde es nie wieder tun, ich werde…«
Er plapperte nur so vor sich hin und konnte nicht einmal sich selbst sprechen hören, so durcheinander war er. Doch das Licht wurde einen Augenblick lang heller, und er spürte eine Frage in seinem Geist. Zwar wurde kein Wort gewechselt, aber er erkannte dennoch, daß der leuchtende Mann von ihm wissen wollte, was ihm denn leid tat.
Und als er darüber nachdachte, wußte Alvin nicht mehr genau, was eigentlich verkehrt gewesen war. Bestimmt doch nicht das Töten selbst – man konnte schließlich verhungern, wenn man nicht gelegentlich ein Schwein schlachtete, außerdem war es doch wohl kein Mord, wenn ein Wiesel eine Maus tötete, oder?
Dann senkte sich das Licht wieder auf ihn herab, und er hatte eine weitere Vision. Diesmal keine Schaben. Nun erblickte er einen Roten Mann, der nach einem Reh rief, damit es kam und starb. Das Reh näherte sich, zitternd und mit geweiteten Augen, weil es wußte, daß es zum Sterben kam. Der Rote ließ einen Pfeil hervorschnellen, und im nächsten Moment traf er auch schon die Flanke des Rehs. Die Beine des Tieres bebten. Es stürzte. Alvin wußte, daß in dieser Vision überhaupt keine Sünde war, denn sterben und töten waren zwei verschiedene Seiten des Lebens. Der Rote tat recht und ebenso das Reh, denn beide gehorchten ihrem natürlichen Gesetz.
Wenn das Böse, das er getan hatte, also nicht im Tod der Schaben lag, worin dann? In der Macht, die er besaß? In seiner Fähigkeit, dafür zu sorgen, daß die Dinge dort hingingen, wo er sie hinhaben wollte, daß sie genau an der richtigen Stelle zerbrachen, in seinem Verstehen darum, wie die Dinge sein sollten? Das hatte er als ziemlich nützlich empfunden, wie er all die Dinge gemacht und repariert hatte, die ein Junge in einem Haushalt auf dem wilden Land eben so machte und reparierte. Er konnte die beiden Stücke eines gebrochenen Sensengriffs zusammenfügen, so fest zusammen, daß sie auf alle Zeiten zusammenblieben, ohne Leim oder Nagel. Oder auch zwei Stücke zerrissenen Leders, er brauchte sie nicht einmal zu nähen. Seine Fertigkeit hatte er bei den Schaben angewandt, indem er ihnen beibrachte, das zu tun, was er wollte. War diese Fähigkeit etwa eine Sünde?
Der leuchtende Mann hörte seine Frage, noch bevor er Worte dafür gefunden hatte. Wieder schob ihn das Licht, wieder kam eine Vision. Diesmal sah er sich selbst, wie er mit den Händen gegen einen Stein drückte, der wie Butter unter seinen Händen zerschmolz und genau die Form annahm, die er haben wollte, glatt und rund, ein Ball, eine Kugel, die immer größer und größer wurde, bis sie zu einer ganzen Welt geworden
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