Der siebente Sohn
tun.
»Mir ist aufgefallen«, sagte Geschichtentauscher, als sie den laubbedeckten Anhang emporkletterten, daß dein Vater nicht mit deiner Mutter und Cally und den Mädchen losgegangen ist.«
»Er geht nicht in diese Kirche«, sagte Alvin. »Er meint, Reverend Thrower wäre ein Esel. Natürlich sagt er das nicht, wenn Mama es hören kann.«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, meinte Geschichtentauscher.
Oben auf dem Gipfel des Hügels blieben sie stehen und blickte über Weideland auf die Kirche hinunter. Der Kirchenhügel versperrte den Blick auf die Stadt Vigor Church. Inmitten des herbstlichen braunen Grases wirkte die Kirche wie das weißeste Dinge der Welt. Alvin konnte Wagen sehen, die noch immer in Richtung Kirche fuhren, und Pferde, die gerade auf der Weide an den Pfählen festgemacht wurden.
Wenn sie sich jetzt beeilten, würden sie wahrscheinlich bereits auf ihren Plätzen sitzen, noch bevor Reverend Thrower mit der Hymne begonnen hatte.
Aber Geschichtentauscher begann nicht damit, den Hügel hinunterzugehen. Er setzte sich einfach auf einen Baumstumpf und fing an, ein Gedicht zu rezitieren. Alvin hörte genau zu, weil Geschichtentauschers Gedichte sehr gescheit und lustig waren.
Ich trat in den Garten der Liebe
Und sah, was ich niemals geschaut:
Dort wo im Grün ich einst spielte
Ward eine Kapelle erbaut.
Die Tore waren verschlossen
Und ›Du sollst nicht‹ stand drüber geschrieben,
Da dreht' ich mich um, schaut' im Garten
Wo die lieblichen Blumen geblieben.
Und ich sah, daß er war voller Gräber
Und statt Blumen der Grüften Gestein,
Priester in schwarzen Kutten schritten im Kreise umher
Zu Fesseln mit dornigen Strängen all meine Freude und all mein Begehr.
Oh, Geschichtentauscher hatte wirklich ein seltsames Talent, denn noch während er das Gedicht rezitierte, verwandelte sich vor Alvins Augen die ganze Welt. Die Weiden und Bäume sahen aus wie ein einziger Frühlingsruf, von lebhaftem Gelbgrün, mit Zehntausenden von Blüten, und das Weiße der Kapelle in ihrer Mitte leuchtete nicht länger, sondern hatte statt dessen die staubige, kalkige Weißtönung alten Gesteins angenommen. »Zu Fesseln mit dornigen Strängen, all meine Freude und all mein Begehr«, wiederholte Alvin. »Ihr habt wohl nicht viel für Religion übrig;«
»Ich atme die Religion mit jedem Zug«, widersprach Geschichtentauscher. »Ich sehne mich nach Visionen und suche nach den Spuren von Gottes Hand. Doch auf dieser Welt sehe ich mehr Spuren des anderen. Eine Spur aus glitzerndem Schleim, der mich verbrennt, wenn ich ihn berühre. Gott ist dieser Tage ein wenig distanziert, Al Junior, aber Satan fürchtet sich nicht davor, sich zusammen mit der Menschheit im Schlamm zu suhlen.«
»Thrower sagt, seine Kirche ist das Haus Gottes.«
Geschichtentauscher aber saß einfach nur da und sagte ganz lange überhaupt nichts.
Schließlich fragte Alvin ihn geradeheraus: »Habt Ihr in dieser Kirche Teufelsspuren geschaut?«
In den Tagen, da Geschichtentauscher schon bei ihnen gewesen war, hatte Alvin erkannt, daß Geschichtentauscher niemals wirklich log. Aber wenn er nicht auf eine Antwort festgelegt werden wollte, pflegte er ein Gedicht aufzusagen. So verfuhr er auch jetzt.
»O Rose, du bist krank.
Der unsichtbare Wurm
Der flieget in der Nacht
Im heulend', heftig' Sturm
Hat deine Bettestatt
Aus Scharlachfreud' gefunden
Und seine dunkel Lieb'
Dein Leben bald zerschunden.
Alvin hatte keine Geduld mit solch verworrenen Antworten. »Wenn ich etwas hören möchte, was ich nicht verstehen kann, kann ich gleich Isaias lesen.«
»Das ist Musik in meinen Ohren, mein Junge, wenn du mich mit dem größten aller Propheten vergleichst.«
»Kann kein besonders großartiger Prophet sein, wenn kein Mensch ein Wort von dem verstehen kann, was er geschrieben hat.«
»Oder er wollte vielleicht, daß wir alle Propheten werden.«
»Ich habe nicht viel für Propheten übrig«, meint Alvin. »So, wie ich das sehe, sterben sie genauso wie alle anderen auch.«
Das war etwas, was er seinen Vater einmal hatte sagen hören.
»Jeder stirbt irgendwann«, meinte Geschichtentauscher, »aber viele von denen, die gestorben sind, leben in ihren Worten weiter.«
»Worte bleiben nie wirklich«, erwiderte Alvin. »Also wenn ich etwas mache, dann ist es das Ding, das ich gemacht habe. Zum Beispiel, wenn ich einen Korb mache, dann ist das ein Korb. Wenn er zerrissen wird, ist er ein zerrissener Korb. Aber wenn ich Worte sage, dann kann man die
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