Der siebente Sohn
»Alvin Junior, ich bin es so leid, daß du immer drei Stunden brauchst, um dich Sonntag morgens anzuziehen, daß ich dich gleich nackt mit in die Kirche schleppe!«
»Ich bin gar nicht nackt!« rief Alvin hinunter. Doch da er gerade sein Nachthemd trug, war das wahrscheinlich noch schlimmer, als nackt zu sein. Er riß sich das Flanellnachthemd vom Leib, hängte es an einen Haken und begann, sich so schnell wie möglich anzuziehen.
Es war schon sonderbar. Jeden anderen Tag brauchte er nur nach seinen Kleidern zu greifen, ohne überhaupt nachzudenken, und dann waren die auch da, jedes Teil, das er haben wollte. Hemd, Hose, Strümpfe, Schuhe. Doch an einem Sonntagmorgen schien es, als würden die Kleider vor seiner Hand davonlaufen. Dann griff er nach seinem Hemd und erwischte die Hose. Er griff nach einer Socke und bekam einen Schuh zu fassen.
Als Mama also schließlich gegen die Tür polterte, war es daher nicht allein Alvins Schuld, daß er noch nicht einmal seine Hose angezogen hatte.
»Du hast das Frühstück verpaßt! Du bist noch immer halbnackt! Wenn du dir einbildest, daß die ganze Familie deinetwegen zu spät in die Kirche kommt, dann…«
»… bilde ich dir gleich was ein«, sagte Alvin.
Es war doch gar nicht seine Schuld, daß sie immer dasselbe sagte. Aber sie wurde so wütend auf ihn, als hätte er so tun müssen, als würde es ihn überraschen, sie es in diesem Sommer zum neunzigstenmal sagen zu hören. O ja, sie war ganz und gar bereit, ihn zu verhauen, oder sogar nach Pa zu rufen, als plötzlich Geschichtentauscher zu seiner Rettung kam.
»Goody Faith«, sagte Geschichtentauscher, »ich kümmere mich gerne darum, daß er in die Kirche kommt, wenn Ihr schon mit den anderen vorgeht.«
Kaum hatte Geschichtentauscher gesprochen, als Mama herumwirbelte und versuchte zu verbergen, wie zornig sie gewesen war. Sofort begann Alvin, einen Beruhigungszauber auf sie zu legen – mit der rechten Hand, wo sie es nicht sehen konnte, denn wenn sie es bemerkt hätte, hätte sie ihm sicherlich den Arm gebrochen. Ein Beruhigungszauber funktionierte nicht so gut, wenn man den anderen nicht berühren konnte, aber da sie sich schon mächtig anstrengte, vor Geschichtentauscher ruhig auszusehen, klappte es doch ganz ordentlich.
»Ich möchte Euch wirklich keine Umstände machen«, sagte Mama.
»Das sind keine Umstände, Goody Faith«, erwiderte Geschichtentauscher. »Ich tue schon wenig genug, um Euch Eure Güte zu erwidern.«
»Wenig genug!«
Inzwischen war die Verwirrung aus Mamas Stimme fast völlig gewichen. »Mein Mann sagt aber, daß Ihr für zwei Erwachsene arbeitet. Und wenn Ihr den Kleinen Geschichten erzählt, erlebe ich hier in diesem Haus mehr Frieden und Ruhe als… als jemals zuvor.«
Sie drehte sich wieder zu Alvin um, doch nun war ihr Zorn mehr gespielt als echt. »Wirst du tun, was Geschichtentauscher dir sagt, und ganz schnell in die Kirche kommen?«
»Ja, Mama«, antwortete Alvin Junior. »So schnell ich kann.«
»Also gut. Ich danke Euch recht freundlich, Geschichtentauscher. Wenn Ihr diesen Jungen dazu bringen könnt, zu gehorchen, dann ist das mehr, als irgend jemand bisher geschafft hat, seit er das Sprechen gelernt hat.«
»Er ist ein richtiger Lausejunge«, sagte Mary draußen auf dem Gang.
»Halt den Mund, Mary«, sagte Mama, »sonst stopfe ich dir die Unterlippe in die Nase und zwicke sie dort fest, damit er geschlossen bleibt.«
Alvin seufzte erleichtert. Wenn Mama solch widersinnige Drohungen ausstieß, bedeutete das, daß sie nicht mehr wütend war. Mary stolzierte erhobenen Hauptes den Gang entlang, aber Alvin kümmerte sich gar nicht mehr darum. Er grinste einfach nur Geschichtentauscher an, und der alte Mann grinste zurück.
»Hast du Schwierigkeiten, dich für den Kirchgang anzuziehen, Junge?« fragte Geschichtentauscher.
»Lieber würde ich mich mit Talg bekleiden und durch eine Herde hungriger Bären wandern«, meinte Alvin Junior.
»Es überleben aber mehr Menschen den Kirchgang als Begegnungen mit Bären.«
»Aber nicht sehr viel mehr.«
Schon bald war er angezogen. Doch es gelang ihm, Geschichtentauscher dazu zu überreden, den kürzeren Weg zu nehmen, was bedeutete, daß sie durch den Wald über den Hügel hinter dem Haus gehen würden. Da es draußen ziemlich kalt war und eine Weile nicht geregnet hatte, würde es nicht schlammig sein, und Mama würde ihre kleine Abweichung wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Und was Mama nicht wußte, würde ihm nicht weh
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