Der siebte Kreis des Wissens - Covenant 02
das Land zu heilen, ist wieder erblüht, und wir haben dort Werke vollbracht, von denen unsere Vorväter nicht einmal zu träumen wagten. Der Stab des Gesetzes erfüllt viele Wünsche. Aber das Herzstück unseres Scheiterns bleibt vorhanden. Denn all unser Wissen, all unsere Kenntnis des Stabes und der Erdkraft sind uns von Kevin überliefert worden, dem Hoch-Lord der Alt-Lords. Und er unterlag – ja, was ihm geschah, war schlimmer als nur eine Niederlage.
Nun sehen wir uns der gleichen Bedrohung ausgesetzt, die diesmal noch gewaltiger ist infolge der Macht des Steins. Und dabei haben wir nur zwei jener Sieben Kreise des Wissens wiederentdeckt, in denen Kevin seine Lehre zusammenfaßte. Überdies sind diese zwei Wissenskreise im Kern bereits zuviel für uns. Irgendein Fehl in unserer Weisheit oder eine Unzulänglichkeit des Geistes hindert uns am Erfassen ihrer Geheimnisse. Ohne Meisterung dieser beiden Kreise vermögen wir jedoch nicht den Rest zu erringen, weil Kevin, der in seiner Klugheit die Gefahren unzeitgemäßen Wissens und zu großer Macht erkannte, jeden Kreis gesondert verbarg, so daß nur das Verstehen eines jeden jeweiligen Kreises zur Entdeckung des nächsten führen kann. Vierzig Jahre lang sind wir ohne Erfolg geblieben. Und nunmehr haben wir erfahren, daß unterdessen auch Lord Foul sich nicht untätig gehalten hat. Das wissen wir von diesem Wegwahrer. Der Erzfeind des Landes hat Macht und Heerscharen gesammelt, so daß es mittlerweile in dem Landstrich jenseits der Zerspellten Hügel nur so wimmelt von entstelltem Leben – von zahllosen armen, mißbrauchten Wesen wie Dukkha , durch die Macht des Steins in Lord Fouls Seelensklaverei gehalten. Er hat Kräfte zusammengeholt, die übler sind als alles, was das Land jemals zuvor an Üblem kannte, viel grausiger, als wir Grausiges überwinden zu können hoffen dürfen. Ferner hat er seine drei Wüteriche um sich geschart, seine Diener und dreifache rechte Hand, und zu Befehlshabern seiner Heere ernannt. Es mag sein, daß seine Horden bereits in Marsch gesetzt sind. So ist die Lage beschaffen, in welcher wir dich gerufen haben, Ur-Lord Covenant, Zweifler und Weißgoldträger. Du bist unsere allerletzte Hoffnung. Wir riefen dich herbei, obschon wir wußten, daß diese Tat von dir einen Preis fordern könnte, den du nur schwer zu tragen vermagst. Wir haben geschworen, dem Land zu dienen, und anders pflegen wir nicht zu handeln. Thomas Covenant! Willst du uns nicht beistehen?«
Im Verlauf ihres langen Vortrags hatte ihre Stimme an Stärke und Ausdruckskraft ständig gewonnen, bis sie zum Schluß fast sang. Covenant konnte sich dem Zuhören nicht verweigern. Ihr Tonfall drang bis in sein Innenleben vor, erweckte all seine Erinnerungen an die Schönheit des Landes. Er entsann sich an den zauberhaften Tanz der Flammengeister beim Frühlingsfest, an die üppige Gesundheit der Hügel Andelains, die das Herz besänftigte, den unerfreulichen, gespenstischen Schimmer von Morinmoss, die strengen, flüchtig gewellten Ebenen von Ra und die ungestümen Ranyhyn, die großen Pferde. Und er erinnerte sich daran, wie es war, zu fühlen, wieder lebendige Nerven in den Fingern zu besitzen, dazu imstande zu sein, Gras und Gestein zu betasten. Die bittere Heftigkeit der Erinnerungen brachte sein Herz zum Schmerzen. »Eure Hoffnung führt euch in die Irre«, stöhnte er in die Ruhe nach Elenas Appell. »Ich verstehe nichts von Macht. Sie hat etwas mit dem Leben zu schaffen, und ich bin so gut wie tot. Oder was glaubt ihr, was Leben ist? Leben heißt fühlen. Ich habe das Fühlen verloren. Ich bin ein Leprakranker.«
Unter Umständen hätte er gleich darauf wieder zu schimpfen angefangen, aber in diesem Moment mischte sich in seinen Widerspruch eine andere, sehr scharfe Stimme. »Warum wirfst du dann deinen Ring nicht fort?«
Covenant drehte sich um und sah sich dem Krieger gegenüber, der am Tisch der Lords an dessen Ende gesessen hatte. Der Mann war inzwischen zum Mittelpunkt der Klause herabgekommen, auf ihre unterste Ebene, und stand nun vor Covenant, die Hände an seinen Hüften. Zu Covenants Überraschung bedeckte eine dunkle Sonnenbrille seine Augen. Der Kopf hinter der Brille bewegte sich lebhaft, als beobachte der Mann unablässig alles ganz genau. Er wirkte wie jemand, der ein Geheimnis hütete. Dank der Unsichtbarkeit seiner Augen machte das andeutungsweise Lächeln seiner Lippen einen rätselhaften, undurchschaubaren Eindruck, ähnlich wie eine Äußerung in
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