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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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begleitet hatten.
    Er trat in die zunehmende Dunkelheit hinaus. Die ersten Sterne funkelten bereits am Himmel, und das Leuchten des Großen Mondes zeichnete sich am Horizont ab. Die Luft war klar und kühl und hatte etwas Sprödes, als könnte man sie mit den Händen zerreißen wie trockenes Papier und zwischen den Fingern zu Staub zerreiben. Eine seltsame Stille herrschte, ein unheimliches Schweigen.
    Aber wenigstens war er hier im Freien und konnte richtige Sterne sehen, und die Luft, die er atmete, so trocken sie auch sein mochte, war richtige Luft, nicht die fabrizierte Atmosphäre der pontifikalen Stadt. Dafür war Valentine dankbar.
    Von Rechts wegen hatte er überhaupt nichts draußen in der Welt verloren.
    Als Pontifex war sein Platz im Labyrinth, verborgen in seinen geheimen kaiserlichen Gemächern tief unter der Erde, unter all den gewundenen Schichten der unterirdischen Siedlung, stets vor den Blicken gewöhnlicher Sterblicher verborgen. Der Coronal, der Juniorkönig, der in dem geräumigen Schloß mit seinen vierzigtausend Zimmern auf dem gewaltigen, den Himmel durchbohrenden Gipfel des Burgbergs hauste, sollte die aktive Gestalt der Regierung sein, der sichtbare Repräsentant königlicher Würde auf Majipoor. Aber Valentine verabscheute das klamme Labyrinth, wo er seinem hohen Rang gemäß wohnen mußte. Er nutzte jede sich bietende Gelegenheit, um ihm zu entfliehen.
    Und diese hier war allerdings unvermeidlich gewesen. Der Mord an Huukaminaan war eine ernste Angelegenheit und erforderte eine Untersuchung auf höchster Ebene; und der Coronal Lord Hissune war gerade auf einer viele Monate währenden Reise durch den fernen Kontinent Zimroel. So kam es, daß sich der Pontifex anstelle des Coronals hier aufhielt.
    »Ihr liebt den Anblick des freien Himmels, nicht wahr?« fragte Herzog Nascimonte, der aus dem gegenüberliegenden Zelt kam, herüberhinkte und sich neben Valentine stellte. Eine gewisse Sanftheit verbarg sich unter seiner schroff krächzenden Stimme. »Ah, das verstehe ich, alter Freund. Wahrhaftig.«
    »An dem Ort, an dem ich sonst leben muß, Nascimonte, sehe ich die Sterne so selten.«
    Der Herzog kicherte. »Leben muß! Der mächtigste Mann der Welt, und doch ist er ein Gefangener! Wie paradox das ist! Wie traurig!«
    »Ich wußte von dem Augenblick, als ich Coronal wurde, daß ich eines Tages im Labyrinth leben müßte«, sagte Valentine. »Ich habe versucht, meinen Frieden damit zu machen. Aber Ihr wißt, es war nie meine Absicht, Coronal zu werden. Wenn Voriax überlebt hätte . . .«
    »Ah, ja, Voriax . . .« Valentines Bruder, der ältere Sohn des Hohen Ratgebers Damiandane: derjenige, der von Kindesbeinen an erzogen worden war, den Thron von Majipoor zu besteigen. Nascimonte sah Valentine eindringlich an. »Es war ein Metamorph, der ihn im Wald ermordet hat, nicht? Ist das inzwischen bewiesen worden?«
    Valentine sagte unbehaglich: »Was spielt es heute für eine Rolle, wer ihn getötet hat? Er ist gestorben. Und der Thron fiel mir zu, weil ich der andere Sohn unseres Vaters war. Eine Krone, die zu tragen ich mir nie hätte träumen lassen. Alle wußten, daß sie für Voriax bestimmt war.«
    »Aber er hatte auch ein dunkleres Schicksal. Armer Voriax!«
    Armer Voriax, ja. Im achten Jahr seiner Regentschaft als Coronal von einem Pfeil aus dem Nichts niedergestreckt, einem Pfeil von dem Bogen eines Metamorphenattentäters, der sich zwischen den Bäumen versteckt hatte. Als er die Krone seines toten Bruders annahm, hatte sich Valentine damit zwangsläufig dazu verurteilt, eines Tages im Labyrinth leben zu müssen, wenn der alte Pontifex starb und der Coronal an der Reihe war, den höheren Titel und die freudlose Aussicht auf eine unterirdische Behausung anzunehmen, die damit einherging.
    »Wie Ihr sagt, es war die Entscheidung des Schicksals«, antwortete Valentine, »und nun bin ich Pontifex. Nun, so sei es, Nascimonte. Aber ich werde mich nicht die ganze Zeit da unten in der Dunkelheit verstecken. Das kann ich nicht.«
    »Warum solltet Ihr auch? Der Pontifex kann tun und lassen, was ihm gefällt.«
    »Ja. Ja. Aber nur im Rahmen unserer Gesetze und Bräuche.«
    »Ihr formt Euch Eure Gesetze und Bräuche so, wie sie Euch passen, Valentine. Das habt Ihr schon immer gemacht.«
    Valentine begriff, was Nascimonte damit sagen wollte. Er war nie ein konventioneller Monarch gewesen. Die meiste Zeit seines Exils während der Periode der Usurpation war er durch die Welt gestreift und hatte sich

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