Der siebte Schrein
sie vor ihm zurück. Es war, als hätte sich ein Grab aufgetan, ein winterliches Grab, kalt, naß, dunkel. Der Atem stockte ihr in der Kehle. Sie rang keuchend nach Luft. Als sie sich wieder erholt hatte, sah sie, daß der Meister Verwandler und der blasse Mann sie eindringlich ansahen.
Der mit der Stimme wie eine tief tönende Glocke sah sie ebenfalls an und sprach mit einer schlichten, freundlichen Strenge zu ihr. »Wie ich es sehe, hat der Mann, der dich hierhergebracht hat, Böses geplant, aber du nicht. Aber durch dein Hiersein, Irian, schadest du uns und dir. Alles, was nicht an seinem Platz ist, richtet Schaden an. Ein einziger Ton, wie schön er auch immer gesungen wird, verdirbt eine Melodie, wenn er nicht dazugehört. Frauen unterrichten Frauen. Hexen lernen ihr Gewerbe von anderen Hexen und Zauberern, nicht von Magiern. Was wir hier lehren, ist in einer Sprache, die nicht für die Zungen von Frauen bestimmt ist. Das jugendliche Herz rebelliert gegen solche Gesetze und nennt sie ungerecht und willkürlich. Aber es sind wahre Gesetze, die nicht darauf basieren, was wir wollen, sondern was ist. Die Gerechten und Ungerechten, die Weisen und Törichten, alle müssen ihnen gehorchen, andernfalls vergeuden sie Leben und bringen Trauer über sich.«
Der Meister Verwandler und ein dünner alter Mann mit schmalem Gesicht, der neben ihm stand, nickten zustimmend. Meister Hand sagte: »Irian, es tut mir leid. Elfenbein war mein Schüler. Wenn ich ihn schon schlecht unterrichtet habe, so habe ich es noch schlimmer gemacht, als ich ihn weggeschickt habe. Ich hielt ihn für unbedeutend und darum harmlos. Aber er hat dich belogen und getäuscht. - Du darfst keine Scham empfinden. Es war seine Schuld - und meine.«
»Ich schäme mich nicht«, sagte Irian. Sie sah alle an. Sie überlegte, ob sie ihnen für ihre Höflichkeit danken sollte, aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Sie nickte ihnen steif zu, drehte sich um und verließ den Raum.
Der Türhüter holte sie ein, als sie an eine Kreuzung kam und nicht wußte, welche Richtung sie einschlagen sollte. »Hier entlang«, sagte er und hielt mit ihr Schritt, und nach einer Weile: »Hier entlang«, und auf diese Weise kamen sie wenig später zu einer Tür. Sie bestand nicht aus Elfenbein und Horn. Sie bestand aus schmucklosem Eichenholz, schwarz und massiv, mit einem vom Alter abgenutzten Riegel aus Eisen. »Dies ist die Hintertür«, sagte der Magier und öffnete sie. »Medras Tor wurde sie genannt. Ich bin der Hüter beider Türen.« Er öffnete sie. Die Helligkeit des Tages tat Irian in den Augen weh. Als sie klar sehen konnte, sah sie einen Weg, der von der Tür durch die Gärten und Felder dahinter führte; jenseits der Felder standen hohe Bäume, und auf der rechten Seite erhob sich die Wölbung des Kogel von Roke. Aber unmittelbar vor der Tür stand der Mann mit hellem Haar und zusammengekniffenen Augen auf dem Weg, als hätte er auf sie gewartet.
»Formgeber«, sagte der Türhüter, nicht im geringsten überrascht.
»Wohin schicken Sie diese Dame?« fragte der Formgeber in seiner seltsamen Sprechweise.
»Nirgends«, sagte der Türhüter. »Ich lasse sie hinaus, wie ich sie hereingelassen habe, auf ihren Wunsch.«
»Möchtest du mit mir kommen?« fragte der Formgeber Irian.
Sie sah ihn und den Türhüter an und sagte nichts.
»Ich lebe nicht in diesem Haus. In keinem der Häuser«, sagte der Formgeber. »Ich lebe dort. In dem Hain. Ah«, sagte er und drehte sich unvermittelt um. Der große, weißhaarige Mann, der Namengeber Kurremkarmerruk, stand am Ende des Wegs. Er stand erst da, seit der andere Magier »Ah« gesagt hatte. Irian sah mit äußerster Verwunderung von einem zum anderen.
»Dies ist nur ein Abbild von mir, eine Darstellung, eine Sendung«, sagte der alte Mann zu ihr. »Ich lebe auch nicht hier. Meilen entfernt.« Er zeigte nach Norden. »Du kannst dorthin kommen, wenn du mit dem Formgeber fertig bist. Ich würde gern mehr über deinen Namen erfahren.« Er nickte den beiden anderen Magiern zu und war plötzlich nicht mehr da. Eine Hummel summte träge durch die Luft, wo er gewesen war.
Irian sah zu Boden. Nach einer langen Zeit räusperte sie sich und sagte, ohne aufzuschauen: »Stimmt es, daß ich durch mein Hiersein Schaden anrichte?«
»Ich weiß es nicht«, sagte der Türhüter.
»Im Hain kann es nicht schaden«, sagte der Formgeber. »Komm mit. Es gibt da ein altes Haus, eine Hütte. Alt, schmutzig. Das stört dich doch nicht,
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