Der siebte Schrein
tote Hand berührt. Oder den König berührt, der uns Hoffnung gebracht hat. Ein Versprechen wurde gegeben, durch mich gegeben, ich habe es ausgesprochen - ›Eine Frau auf Gont‹ -, ich werde nicht zusehen, wie dieses Wort in Vergessenheit gerät.«
»Sollen wir also nach Gont gehen?« fragte der Kräutermeister, der sich von Azvers Leidenschaft anstecken ließ. »Sperber ist dort.«
»Tenar vom Ring ist dort«, sagte Azver.
»Vielleicht liegt dort unsere Hoffnung«, sagte der Namengeber.
Sie standen unschlüssig beisammen und versuchten, der Hoffnung Raum zu geben.
Auch Irian schwieg, aber ihre Hoffnung schwand und wich einem Gefühl der Scham und völligen Bedeutungslosigkeit. Dies waren tapfere, weise Männer, die zu retten trachteten, was sie liebten, aber nicht wußten, wie sie es anstellen sollten. Und sie hatte keinen Anteil an ihrer Weisheit, kein Mitspracherecht bei ihren Entscheidungen. Sie entfernte sich von ihnen, und sie bemerkten es nicht. Sie ging weiter, zum Thwilbach, wo er aus dem Wald herauskam und über eine kleine Steingruppe fiel. Im morgendlichen Sonnenlicht funkelte das Wasser und gab ein glückliches Murmeln von sich. Sie wollte weinen, aber im Weinen war sie noch nie gut gewesen. Sie stand da, betrachtete das Wasser, und ihre Scham verwandelte sich allmählich in Zorn.
Sie ging zu den drei Männern zurück und sagte: »Azver.«
Er drehte sich erschrocken zu ihr um und kam ein Stück näher.
»Warum habt ihr meinetwegen euer Gesetz gebrochen? War es fair mir gegenüber, die niemals sein kann, was ihr seid?«
Azver runzelte die Stirn. »Der Türhüter hat dich eingelassen, weil du darum gebeten hast«, sagte er. »Ich brachte dich in den Hain, weil die Blätter der Bäume deinen Namen nannten, noch ehe du überhaupt hier warst. Irian, sagten sie. Irian. Ich weiß nicht, warum du gekommen bist, aber nicht aus Zufall. Auch der Gebieter weiß das.«
»Vielleicht bin ich gekommen, um ihn zu vernichten.«
Er sah sie an und sagte nichts.
»Vielleicht bin ich hergekommen, um Roke zu vernichten.«
Seine blassen Augen blitzten. »Versuch´s!«
Ein Schauer durchlief sie, wie sie ihm so gegenüber stand. Sie fühlte sich größer, als er war, größer, als sie selbst war, sehr viel größer. Sie konnte einen Finger heben und ihn vernichten. Er stand da in seinem kleinen, tapferen, kurzen Menschsein, seiner Sterblichkeit, schutzlos. Sie holte tief, tief Luft. Sie rückte von ihm ab.
Das Gefühl gewaltiger Kraft strömte aus ihr. Sie neigte den Kopf ein wenig und sah überrascht ihren braunen Arm, den hochgekrempelten Ärmel, das frische grüne Gras um die Sandalen an ihren Füßen herum. Sie sah den Formgeber wieder an, und er schien immer noch ein verletzbares Wesen zu sein. Sie bedauerte und ehrte ihn. Sie wollte ihn vor der Gefahr warnen, in der er schwebte. Aber sie brachte kein einziges Wort heraus. Sie drehte sich um und ging zum Bachufer, zu dem winzigen Wasserfall zurück. Dort ließ sie sich auf die Hacken nieder, verbarg das Gesicht in den Armen, schloß ihn aus, schloß die Welt aus.
Die Stimmen der Magier waren wie die Stimmen des fließenden Bachs. Der Bach sprach seine Worte und sie die ihren, aber es waren alles nicht die richtigen Worte.
4. Irian
Als Azver zu den anderen Männern zurückkehrte, veranlaßte sein Gesichtsausdruck den Kräutermeister zu der Frage: »Was ist?«
»Ich weiß nicht«, sagte Azver. »Vielleicht sollten wir Roke nicht verlassen.«
»Vielleicht können wir das gar nicht«, sagte der Kräutermeister. »Wenn der Windschlüssel die Winde gegen uns wendet . . .«
»Ich kehre dahin zurück, wo ich bin«, sagte Karremkamerruk unvermittelt. »Ich lasse mich nicht gern herumliegen wie einen alten Schuh. Ich geselle mich heute abend wieder zu euch.« Und damit war er verschwunden.
»Ich würde gern ein wenig unter deinen Bäumen spazierengehen, Azver«, sagte der Kräutermeister mit einem Stoßseufzer.
»Geh nur, Deyala. Ich bleibe hier.« Der Kräutermeister entfernte sich. Azver setzte sich auf die rauhe Bank, die Irian gemacht hatte, und lehnte sich an die Vorderseite des Hauses. Er sah stromaufwärts zu ihr, die reglos am Ufer verharrte. Schafe auf der Wiese zwischen ihnen und dem Großhaus blökten leise. Die Morgensonne wurde heiß.
Sein Vater hatte ihm den Namen Banner des Krieges gegeben. Er war nach Westen gekommen, hatte alles zurückgelassen, was er kannte, seinen wahren Namen von den Bäumen des Innewohnenden Hains erfahren und war zum
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