Der siebte Schrein
Formgeber von Roke geworden. Das ganze Jahr sprachen die Formen der Schatten und der Äste und der Wurzeln, die stumme Sprache seines Waldes, von Zerstörung, von Überwindung, von der Veränderung aller Dinge. Und nun war diese Veränderung über sie gekommen, das wußte er. Mit ihr.
Sie unterstand seinem Einfluß, seiner Obhut, das hatte er gewußt, als er sie gesehen hatte. Auch wenn sie gekommen war, um Roke zu vernichten, wie sie gesagt hatte, mußte er ihr dienen. Er tat es bereitwillig. Sie war mit ihm durch den Wald gegangen, groß, linkisch, furchtlos; sie hatte die dornigen Arme von Büschen mit ihrer behutsamen Hand beiseite gehalten. Ihre Augen, bernsteinbraun wie das Wasser des Thwilbachs in der Dämmerung, sahen alles; sie hatte zugehört; sie war still gewesen. Er wollte sie beschützen und wußte, daß er es nicht konnte. Er hatte ihr ein wenig Wärme gespendet, als ihr kalt gewesen war. Sonst hatte er ihr nichts zu geben. Wohin sie gehen mußte, dahin würde sie gehen. Sie hatte keinen Begriff von Gefahr. Sie hatte keine Weisheit außer ihrer Unschuld, keinen Panzer außer ihrem Zorn. Wer bist du, Irian? sagte er zu ihr und sah sie an, geduckt wie ein in seiner Sprachlosigkeit gefangenes Tier.
Sein Freund kam aus dem Wald zurück und setzte sich eine Weile neben ihn auf die Bank. Um die Mittagszeit kehrte er ins Großhaus zurück und willigte ein, am Morgen mit dem Türhüter zurückzukommen. Sie würden alle anderen Meister bitten, sich im Hain mit ihnen zu treffen. »Aber er wird nicht kommen«, sagte Deyala, und Azver nickte.
Den ganzen Tag hielt er sich in der Nähe des Otternhauses auf, behielt Irian im Auge, sorgte dafür, daß sie eine Kleinigkeit mit ihm aß. Sie kam zum Haus, aber nachdem sie gegessen hatten, kehrte sie zu der Stelle am Bach zurück und verweilte reglos dort. Und auch er verspürte eine Lethargie von Geist und Körper, eine Dummheit, gegen die er ankämpfte, die er aber nicht abschütteln konnte. Er dachte an die Augen des Gebieters, und da wurde ihm kalt, obwohl er in der Wärme des Sommertages saß. Wir werden von den Toten regiert, dachte er. Der Gedanke ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Er war dankbar, als er Kurremkarmerruk langsam von Norden am Ufer des Thwilbachs entlang kommen sah. Der alte Mann watete barfuß durch den Bach, hielt seine Schuhe in der einen und einen langen Stab in der anderen Hand und fauchte, wenn er auf den Steinen abrutschte. Am diesseitigen Ufer setzte er sich hin, trocknete die Füße ab und zog die Schuhe wieder an. »Wenn ich zum Turm zurückkehre«, sagte er, »fahre ich. Ich miete einen Kutscher, kaufe ein Maultier. Ich bin alt, Azver.«
»Komm mit zum Haus«, sagte der Formgeber und servierte dem Namengeber Wasser und Essen.
»Wo ist das Mädchen?«
»Schläft.« Azver nickte zu der schlafenden Gestalt, die zusammengerollt im Gras oberhalb des kleinen Wasserfalls lag.
Die Hitze des Tages ließ langsam nach, die Schatten des Hains fielen auf das Gras, aber das Otternhaus lag noch im Sonnenlicht. Kurremkarmerruk saß mit dem Rücken zur Hauswand, Azver auf der Schwelle.
»Wir sind am Ende angelangt«, sagte der alte Mann in die Stille.
Azver nickte stumm.
»Was hat dich hierhergeführt, Azver?« fragte der Namengeber. »Das wollte ich dich schon oft fragen. Es war ein langer, langer Weg. Und soweit ich weiß, gibt es keine Magier in den Landern der Kargisch.«
»Nein. Aber wir haben alles, woraus die Magie gemacht ist. Wasser, Steine, Bäume, Worte . . .«
»Aber nicht die Worte des Schöpfens.«
»Nein. Auch keine Drachen.«
»Niemals?«
»Nur in einigen sehr, sehr alten Geschichten. Bevor die Götter existierten. Bevor die Menschen existierten. Bevor die Menschen Menschen wurden, waren sie Drachen.«
»Also das ist interessant«, sagte der alte Gelehrte und richtete sich auf. »Ich habe dir gesagt, daß ich über Drachen gelesen habe. Du weißt, es wird gemunkelt, daß sie über dem Inneren Meer fliegen, sogar östlich bis Gont. Das war zweifellos Kalessin, der Ged nach Hause gebracht hat, vervielfältigt durch Matrosen, die eine gute Geschichte noch besser machen wollten. Aber ein Junge hat mir geschworen, daß sein ganzes Dorf dieses Frühjahr Drachen hat fliegen sehen, westlich des Berges Onn. Und darum habe ich die alten Bücher gelesen, um zu erfahren, wann sie das letzte Mal östlich von Pendor gewesen sind. Und in einem stieß ich auf deine Geschichte, oder etwas Ähnliches. Daß Menschen und Drachen eine Rasse
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