Der siebte Schrein
Sulis vielleicht zahlenmäßig überlegen sein, aber die Ritter des Reihers waren besser bewaffnet, und die Disziplin der Nabbanaikämpfer war sprichwörtlich - eine halbe Legion der Seewölfe des Imperators hatte vor wenigen Jahren in einer Schlacht zehnmal so viele Thrithingmänner abgeschlachtet. Und Osweard, der neue Großthan, war jung und unerfahren als Anführer in einem Krieg. Die geringeren Thans baten meinen Großvater Godric, ihnen seine Weisheit zur Verfügung zu stellen, mit dem Herrn der Nabbanai zu sprechen und etwas über die wahren Absichten des Mannes herauszufinden.
Und so geschah es, daß Lord Sulis zur Zwingburg meines Großvaters kam und meine Mutter zum erstenmal sah.
Als kleines Mädchen gab ich mich gern dem Glauben hin, daß sich Sulis in dem Moment in meine Mutter Cynethrith verliebt hat, als er sie zum erstenmal sah, wie sie stumm hinter dem Stuhl ihres Schwiegervaters in dessen großem Saal stand. Sie war wunderschön, das weiß ich - bevor mein Vater starb, nannten alle Leute im Haushalt sie wegen ihres langen Halses und ihrer weißen Schultern nur Ricwalds Schwan. Ihr Haar war von einem sehr blassen Gold, ihre Augen grün wie der Königsee im Sommer. Ein gewöhnlicher Mann hätte sich auf den ersten Blick in sie verliebt. Aber »gewöhnlich« muß das unpassendste aller Wörter gewesen sein, um meinen Stiefvater zu beschreiben.
Als ich eine junge Frau war und mich selbst zum erstenmal verliebte, wußte ich mit Sicherheit, daß Sulis sie nicht geliebt haben konnte. Wie hätte jemand, der liebt, so kalt und distanziert sein können wie er? So übertrieben höflich? Da mir damals beim bloßen Gedanken an Tellarin, meine heimliche Liebe, schwer ums Herz wurde, wußte ich, daß ein Mann, der sich meiner Mutter gegenüber so verhielt, wie mein Stiefvater es tat, so etwas wie Liebe überhaupt nicht empfinden konnte.
Heute bin ich nicht mehr so sicher. So vieles ist anders, wenn ich heute darüber nachdenke. In diesem hohen Alter bin ich weiter weg, als würde ich mein Leben von einem hohen Berg aus betrachten, aber in vieler Hinsicht scheine ich manches aus größerer Nähe zu sehen.
Sulis war ein kluger Mann und kann nicht übersehen haben, wie sehr mein Großvater den neuen Großthan haßte - man merkte es an allem, was mein Großvater sagte. Er konnte nicht vom Wetter sprechen, ohne zu erwähnen, daß zu der Zeit, als er selbst noch Großthan gewesen war, die Sommer wärmer und die Winter kürzer gewesen seien, und wäre seinem Sohn vergönnt gewesen, seine Nachfolge anzutreten, so versicherte er geradezu, dann wäre jeder Tag der erste Tag des Monats Maia gewesen. Als Sulis das sah, schmiedete er einen Bund mit dem verbitterten alten Mann, zuerst mit den Geschenken und feinsinnigen Schmeicheleien, mit denen er ihn versah, aber bald auch, indem er Godrics Schwiegertochter den Hof machte.
Als mein Großvater zunehmend beeindruckt vom gesunden Menschenverstand dieses ausländischen Edelmannes war, folgte Sulis´ Geniestreich. Er bot nicht nur einen Brautpreis für meine Mutter - eine Witwe! -, der höher war, als er für die jungfräuliche Tochter eines Großthans üblich gewesen wäre, ein stattliches Vermögen in Schwertern und stolzen Rössern aus Nabban und goldenem Geschirr, sondern erzählte Godric auch, daß er sogar meinen Bruder und mich hierlassen würde, damit wir im Haus unseres Großvaters erzogen werden konnten.
Godric hatte, was Aelfric betraf, noch nicht alle Hoffnung aufgegeben, und dieser Vorschlag versetzte ihn in Entzücken, nur für mich hatte er keine nennenswerte Verwendung. Meine Mutter wäre glücklicher, kamen die beiden Männer am Ende überein, wenn man ihr gestatten würde, zumindest eines ihrer Kinder in ihre neue Heimat auf der Landspitze mitzunehmen.
So wurde es geregelt, und der mächtige ausländische Herr heiratete in den Haushalt des alten Großthans ein. Godric sagte den anderen Thans, daß Sulis nur Gutes im Schilde führe und durch diese Geste kundgetan habe, daß er in Frieden mit den Seenvölkern leben wolle. Sulis habe Priester in seinem Gefolge, die den Hochhorst von allen rastlosen Geistern säubern würden, erklärte Godric den Thans - wie Sulis selbst es meinem Großvater erklärt hatte -, und daher sei es ein zweifacher Segen für unser Volk, wenn Sulis die uralte Festung für sich übernehmen würde.
Was Osweard und die geringeren Thans davon hielten, weiß ich nicht. Im Angesicht von Godrics Begeisterung, der Macht des
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