Der siebte Schrein
folgten Schaf- und Viehherden sowie Dutzende und Aberdutzende Wagen und Ochsenkarren, ein derart gewaltiger Zug, daß die Spuren davon dem Land noch sechzig Jahre später anzusehen sind.
Aber ich war ein Kind und sah nichts von alledem - da noch nicht. Im Saal meines Großvaters hörte ich nur Gerüchte und das, was meine Tanten und meine Mutter beim Nähen tuschelten. Der mächtige Herr, der gekommen war, war ein Edelmann der Nabbanai, wußten sie zu berichten, der von vielen Sulis der Renegat genannt wurde. Er behauptete, er komme in Frieden und wolle sich hier, am Königsee, nur ein Heim errichten. Er sei ein Flüchtling aus dem eigenen Land, sagten manche, ein Häretiker, den der Lektor wegen seiner impertinenten Fragen nach Usires Ädon, unserem gesegneten Erlöser, unter Androhung der Exkommunizierung vertrieben hatte. Nein, er sei aufgrund von Machenschaften der Escritors gezwungen gewesen, seine Heimat zu verlassen, sagten andere. Einen Kirchenmann zu ärgern ist wie auf eine Schlange treten, sagten sie.
Mutter Kirche übte damals noch einen nicht sonderlich starken Einfluß in Erkynland aus, und auch wenn die meisten im ädonitischen Glauben getauft worden waren, trauten die wenigsten der Seevölker dem Sancellan Ädonitis. Viele sprachen von »dieser Priesterbande« und sagten, daß ihr vornehmstes Ziel nicht Gottes Werk sei, sondern die Ausweitung ihrer Macht.
Viele denken das immer noch, aber sie reden nicht mehr schlecht über die Kirche, wenn Fremde sie hören können.
Heute weiß ich viel mehr über diese Dinge als damals, als sie sich zutrugen. Ich verstehe ach so viel, jetzt, wo ich alt bin und alle in meiner Geschichte tot sind. Natürlich bin ich nicht die erste, die diesen besonderen traurigen Weg beschritten hat. Ich glaube, man versteht immer zu spät.
Lord Sulis hatte sich tatsächlich mit der Kirche überworfen, und da Kirche und Staat in Nabban so eng miteinander verflochten waren, hatte er sich auch den Imperator im Sancellan Mahistrevis zum Feind gemacht, doch die Familie meines künftigen Stiefvaters war so mächtig und bedeutend, daß er nicht eingekerkert oder hingerichtet wurde, sondern man ihm statt dessen mit allem Nachdruck ans Herz legte, Nabban zu verlassen. Seine Landsleute glaubten, daß er seinen Hausstand nach Erkynland verlegte, weil jeder Edelmann in diesem abgelegenen Land - meinem Land - König werden konnte, aber Sulis hatte seine eigenen Gründe, dunkler und seltsamer, als irgend jemand sich vorstellen konnte. Und so kam es, daß er seinen gesamten Hausstand, seine Ritter und Knappen und ihre Frauen und Kinder, die Bevölkerung einer kleinen Stadt, ans Ufer des Königsees führte.
Trotz der Schärfe ihrer Schwerter und der Härte ihrer Rüstungen behandelten die Nabbanai die Seevölker mit überraschender Höflichkeit, und in den ersten Wochen herrschten reger Handel und Kameradschaft zwischen ihrem Lager und unseren Städten. Erst als Lord Sulis die Thans der Seevölker wissen ließ, daß er sich im Hochhorst niederlassen wolle, dem verlassenen Schloß auf der Landspitze, wurde den Erkynländern mulmig zumute.
Der riesige und verlassene Hochhorst, ein Reich, wo nur Wind und Schatten herrschten, schaute seit Anbeginn der ältesten Geschichten auf unser Land herab. Niemand konnte sich erinnern, wer ihn erbaut hatte - manche sagten Riesen, aber andere behaupteten, das Feenvolk selbst hätte ihn errichtet. Die Nordmänner aus Rimmersgard sollen sich eine Zeitlang darin verschanzt haben, aber sie waren schon längst wieder fort, von einem Drachen aus der Festung vertrieben, die die Rimmersmänner den Friedfertigen gestohlen hatten. So viele Legenden rankten sich um das Schloß! Als ich klein war, sagte eine der Zofen meiner Mutter zu mir, daß der Hochhorst heute die Heimat von Frosthexen und rastlosen Geistern sei. In vielen Nächten hatte ich daran gedacht, wie er einsam und verlassen auf seiner windumtosten Klippe stand, nur einen halben Tagesritt entfernt, und mich so geängstigt, daß ich nicht schlafen konnte.
Die Vorstellung, daß jemand die verfallene Festung neu aufbauen könnte, machte die Thans nervös, aber nicht nur aus Angst, die Geister zu wecken. Der Hochhorst hielt eine mächtige, vielleicht uneinnehmbare Stellung - selbst in ihrem verfallenen Zustand würden die Mauern fast unmöglich zu stürmen sein, wenn bewaffnete Männer sie verteidigten. Aber die Thans befanden sich in einer schwierigen Lage. Die Männer der Seenvölker mochten denen von
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