Der siebte Schrein
Nabbanai-Lords und möglicherweise ihrer eigenen Scham über den Tod meines Vaters, entschieden sie sich für ein Einlenken. Lord Sulis und seine frischgebackene Braut bekamen den verlassenen Hochhorst mit seinen geborstenen Mauern und seinen Geistern zum Geschenk.
Hat meine Mutter ihren zweiten Mann geliebt? Das kann ich ebensowenig beantworten wie die Frage, was Sulis empfunden hat, und sie sind beide so lange tot, daß ich inzwischen der einzige lebende Mensch bin, der sie beide gekannt hat. Als sie ihn an der Tür von Godrics Haus zum erstenmal gesehen hat, muß er ganz bestimmt das Licht in jedermanns Auge gewesen sein. Er war nicht jung - er hatte, wie meine Mutter, schon ein Ehegespons verloren, allerdings war ein Jahrzehnt vergangen, seit er zum Witwer geworden war, wohingegen die Wunde bei meiner Mutter noch frisch war -, aber er war ein großer Mann aus der größten aller Städte. Er trug einen blütenweißen Mantel über der Rüstung, der an den Schultern von einer Lapislazulispange mit dem Wappen seiner Familie, dem Reiher, zusammengehalten wurde. Den Helm hatte er unter den Arm geklemmt, als er den Saal betrat, und meine Mutter konnte sehen, daß er nur sehr wenige Haare hatte, nur einen Kranz Löckchen am Hinterkopf und über den Ohren, so daß seine Stirn im Schein des Feuers glänzte. Er war groß und kräftig, der glattrasierte Kiefer kantig, die Nase breit und vorstehend. Seine markanten, groben Gesichtszüge gaben ihm ein ernstes und nachdenkliches Aussehen, aber mit einer Spur von Traurigkeit - fast, wie mir meine Mutter einmal sagte, ein Gesicht von der Art, wie es Gott persönlich am Tag des Auswiegens zeigen könnte.
Er machte ihr angst, und er erregte sie - beides erkannte ich daran, wie sie von dieser ersten Begegnung sprach. Aber liebte sie ihn da oder in den folgenden Tagen? Ich kann es nicht sagen. Spielt das eine Rolle? So viele Jahre später ist es schwer zu glauben, daß es das tut.
Die Zeit im Haus ihres Schwiegervaters war hart gewesen. Wie immer es auch um ihre tieferen Gefühle für Sulis bestellt sein mochte, ich zweifle nicht daran, daß sie glücklich war, Sulis zu heiraten.
In dem Monat, als meine Mutter starb - in meinem dreizehnten Lebensjahr -, sagte sie einmal zu mir, sie glaube, daß Sulis Angst davor gehabt hätte, sie zu lieben. Das erklärte sie mir nie - sie war sehr schwach, und das Sprechen fiel ihr schwer -, und ich weiß immer noch nicht, was sie damit gemeint hat.
Das vorletzte, was sie zu mir sagte, schien mir noch rätselhafter. Als die Schwäche in ihrer Brust so schrecklich war, daß sie lange Augenblicke die Kraft zu atmen verlor, brachte sie dennoch die Willenskraft auf, um zu verkünden: »Ich bin ein Geist.«
Sie könnte ihr Leiden gemeint haben - daß sie der Meinung war, sie würde sich nur noch an die Welt klammern wie ein zaghafter Geist, der die Straße zum Himmel nicht beschreiten will, sondern an den Orten verweilt, die er kennt. Ihre letzte Bitte machte jedenfalls deutlich, daß sie der Kreise dieser Welt überdrüssig war. Aber seither habe ich mich gefragt, ob ihre Worte nicht eine andere Bedeutung gehabt haben könnten. Wollte sie damit sagen, daß ihr Leben nach dem Tod meines Vaters nichts weiter als ein Geisterleben gewesen war? Oder wollte sie ausdrücken, daß sie ein Schatten in ihrem eigenen Haus geworden war, etwas, das in den dunklen, heimgesuchten Fluren des Hochhorsts darauf wartete, daß die Fürsorge ihres zweiten Mannes ihm ein wahres Leben gab - eine Fürsorge, die sie von dem schweigsamen, von der Last von Geheimnissen niedergedrückten Mann nie erfahren würde?
Meine arme Mutter. Unsere arme, gequälte Familie!
An das erste Jahr der Ehe zwischen meiner Mutter und Lord Sulis kann ich mich kaum erinnern, aber den Tag, als wir in unser neues Heim einzogen, werde ich nie vergessen. Andere waren uns vorausgeeilt, um unsere Ankunft so angenehm wie möglich zu machen - das wußte ich, weil bereits ein großes Zelt auf dem Rasen im Inneren Zwinger aufgebaut worden war, wo wir in den ersten Monaten schliefen -, aber dem Kind, das ich war, kam es so vor, als ritten wir an einen Ort, wo niemals zuvor Sterbliche gewesen waren. Ich vermutete Hexen oder Trolle hinter jeder Ecke.
Wir kamen die Straße an der Felsenklippe empor, am Rande des Königsees, bis wir die Blendwand erreichten und um die Burg selbst zogen. Die vor uns hier gewesen waren, hatten eine behelfsmäßige Straße im Schatten der Mauern angelegt, daher
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