Der siebte Schrein
den Burgmauern leben noch mehr. Was will er von ihr?«
»Mein Herr glaubt nicht, daß sie ein beliebiges, harmloses altes Hexenweib ist«, sagte Tellarin. »Er hat sie in einen der tiefsten Kerker unter dem Thronsaal werfen und ihr Arme und Beine in Ketten legen lassen.«
Das mußte ich natürlich selbst sehen, einerseits aus Neugier, andererseits aus Sorge um die anscheinend zunehmende geistige Verwirrung meines Stiefvaters.
Am Morgen, als Lord Sulis noch im Bett lag, stieg ich in den Kerker hinunter. Die Frau war die einzige Gefangene - die tiefen Kerkerzellen wurden selten benutzt, weil die Insassen vermutlich eher an der klammen Kälte zugrunde gegangen wären, als eine Zeitspanne abzusitzen, die anderen zur Abschreckung dienen konnte -, und der diensthabende Wachmann ließ die Stieftochter des Schloßherrn nur zu gern die Hexe angaffen. Er zeigte auf die letzte Zellentür in dem unterirdischen Gewölbe.
Ich mußte mich auf Zehenspitzen stellen, damit ich durch den vergitterten Schlitz in der Tür sehen konnte. Die einzige Lichtquelle war eine Fackel an der Wand hinter mir, daher war die Hexe weitgehend im Schatten verborgen. Sie trug Ketten an Handgelenken und Knöcheln, genau wie Tellarin gesagt hatte, und saß im hinteren Teil der fensterlosen Zelle auf dem Boden, wo ihre gekrümmten Schultern ihr das Aussehen eines vom Regen durchnäßten Falken verliehen.
Als ich sie anstarrte, klirrten die Ketten leise, aber sie schaute nicht auf. »Was willst du, kleine Tochter?« Ihre Stimme klang überraschend tief.
»Lord . . . Lord Sulis ist mein Stiefvater«, sagte ich schließlich, als würde das etwas erklären.
Sie riß die riesigen gelben Augen auf. Schon vorher hatte mich ihre Gestalt an einen Raubvogel erinnert - nun fürchtete ich beinahe, sie würde auf mich zufliegen und mich mit scharfen Klauen angreifen. »Kommst du, um Fürbitte für ihn zu leisten?« wollte sie wissen. »Ich sage dir, was ich ihm schon gesagt habe - es gibt keine Antwort auf seine Frage. Jedenfalls keine, die ich ihm geben könnte.«
»Was für eine Frage?« sagte ich mit angehaltenem Atem.
Die Hexe sah mich einen Moment stumm an, dann rappelte sie sich auf die Füße. Ich konnte sehen, welche Anstrengung es sie kostete, die Ketten zu heben. Sie schlurfte nach vorne, bis das Licht durch den Türschlitz direkt auf sie fiel. Ihr dunkles Haar war kurzgeschoren wie das eines Mannes. Sie war weder hübsch noch häßlich, weder groß noch klein, aber sie hatte eine Aura der Macht, besonders in den starr blickenden gelben Laternen ihrer Augen, die meinen Blick anzog und festhielt. Sie war etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte und nicht verstand. Sie redete wie eine normale Frau, hatte aber eine Wildheit gleich fernem Donnergrollen, gleich der Schnelligkeit eines fliehendes Rehs, in sich. Ich war so außerstande, mich abzuwenden, daß ich fürchtete, sie hätte mich mit einem Zauber belegt.
Schließlich schüttelte sie den Kopf. »Ich werde dich nicht in den Wahnsinn deines Vaters hineinziehen, Kind.«
»Er ist nicht mein Vater. Er hat meine Mutter geheiratet.«
Ihr Lachen glich fast einem Bellen. »Ich verstehe.«
Ich trat von einem Fuß auf den anderen und drückte das Gesicht weiter an die Gitterstäbe. Ich wußte nicht, warum ich überhaupt mit der Frau redete oder was ich von ihr wollte. »Warum bist du angekettet?«
»Weil sie mich fürchten.«
»Wie heißt du?« Sie runzelte die Stirn, sagte aber nichts, daher versuchte ich es mit etwas anderem. »Bist du wirklich eine Hexe?«
Sie seufzte. »Kleine Tochter, geh weg! Wenn du mit den albernen Vorstellungen deines Stiefvaters nichts zu tun hast, ist es das beste, wenn du dich von all dem hier fernhältst. Man braucht keine Hexenmeisterin, um zu wissen, daß dies kein gutes Ende nehmen wird.«
Ihre Worte machten mir angst, aber ich konnte mich immer noch nicht von der Zellentür entfernen. »Möchtest du etwas haben? Essen? Trinken?«
Sie sah mich wieder mit diesen fast fieberglänzenden Augen an. »Dieser Haushalt ist noch merkwürdiger, als ich gedacht habe. Nein, mein Kind. Ich will den freien Himmel und meinen Wald, doch das werde ich weder von dir noch einem anderen bekommen. Aber dein Vater sagt, er braucht mich - er wird mich nicht verhungern lassen.«
Daraufhin drehte mir die Hexe den Rücken zu, schlurfte in den hinteren Teil der Zelle zurück und schleifte die Ketten über den Steinboden. Als ich die Treppe hinaufstieg, war mein Kopf so voll, daß er weh
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