Der siebte Schrein
tat - aufgeregte Gedanken, traurige Gedanken, ängstliche Gedanken, alle wirbelten in heilloser Verwirrung durcheinander, wie Vögel in einem geschlossenen Raum.
Mein Stiefvater hielt die Hexe gefangen, während der Monat Marris in den Avrel überging und die Frühlingstage verstrichen. Was immer er von ihr wollte, er bekam es nicht von ihr. Ich besuchte sie viele Male, aber obwohl sie auf ihre Art freundlich war, redete sie nur über belanglose Dinge mit mir. Häufig bat sie mich, ihr zu beschreiben, wie am Morgen der Frost auf dem Boden ausgesehen hatte und welche Vögel auf den Bäumen saßen und was sie sangen, weil sie in ihrer tiefen, fensterlosen Kerkerzelle, die direkt in den Stein der Landzunge gehauen war, nichts von der Außenwelt sehen und hören konnte.
Ich weiß nicht, warum ich mich so zu ihr hingezogen fühlte. Irgendwie schien sie den Schlüssel zu vielen Geheimnissen zu besitzen - dem Wahnsinn meines Stiefvaters, dem Kummer meiner Mutter, meinen eigenen wachsenden Befürchtungen, daß die Fundamente unter meinem neuen Glück instabil waren.
Obwohl mein Stiefvater ihr zu essen gab, wie sie vorhergesagt hatte, und nicht duldete, daß sie in irgendeiner Weise mißhandelt wurde, von der Tatsache ihrer Inhaftierung abgesehen, wurde die Hexe Tag für Tag dünner, und dunkle Ringe bildeten sich wie Blutergüsse unter ihren Augen. Sie sehnte sich nach Freiheit, und wurde wie ein wildes Tier, das im Käfig gehalten wird, krank vor Unglück. Es schmerzte mich, sie zu sehen, als wäre mir selbst die Freiheit gestohlen worden. Jedesmal, wenn ich sie ausgezehrter und schwächer als das Mal zuvor sah, kamen mir Qual und Schmach der letzten, schrecklichen Tage meiner Mutter ins Gedächtnis zurück. Jedesmal, wenn ich den Kerker verließ, ging ich zu einer Stelle, wo ich allein sein konnte, und weinte. Nicht einmal meine gestohlenen Stunden mit Tellarin konnten die Traurigkeit lindern, die ich empfand.
Ich hätte meinen Stiefvater für das gehaßt, was er ihr antat, aber auch er wurde mit jedem Tag kränker, als wäre er in einer Spiegelversion ihrer klammen Zelle gefangen. Welche Frage die Hexe auch immer gemeint haben mochte, sie quälte Sulis so sehr, daß er, ein anständiger Mensch, ihr die Freiheit geraubt - so sehr, daß er nachts kaum noch schlief, sondern bis zum Morgengrauen wach blieb, las und schrieb und wie in einer Art von Ekstase vor sich hin murmelte. Welche Frage es auch sein mochte, ich befürchtete langsam, daß sowohl er wie auch die Hexe ihretwegen sterben würden.
Als ich ein einziges Mal den Mut aufbrachte, meinen Stiefvater zu fragen, warum er sie eingesperrt hatte, sah er über meinen Kopf hinweg zum Himmel, als hätte der eine völlig neue Farbe angenommen, und sagte zu mir: »Dieses Haus hat zu viele Türen, Mädchen. Man öffnet eine, dann noch eine, und dann steht man wieder dort, wo man angefangen hat. Ich kann meinen Weg nicht finden.«
Wenn das die Antwort war, verstand ich sie nicht.
Ich bot der Hexe den Tod an, und sie revanchierte sich mit einer Prophezeiung.
Die Wachtposten des Inneren Zwingers riefen die Mitternachtsstunde aus, als ich aufstand. Ich war seit Stunden im Bett, aber der Schlaf war nicht einmal in meine Nähe gekommen. Ich warf mir meinen dicksten Mantel über und stahl mich auf den Flur hinaus. Ich konnte meinen Stiefvater hinter seiner Tür wie mit einem Besucher sprechen hören. Es tat mir weh, seine Stimme zu hören, weil ich wußte, daß er allein war.
Um diese Zeit war die einzige Wache im Kerker ein verkrüppelter alter Soldat, der sich nicht einmal im Schlaf regte, als ich an ihm vorbeiging. Die Fackel in der Wandhalterung war weit heruntergebrannt, daher konnte ich den Umriß der Hexe zuerst gar nicht in den Schatten erkennen. Ich wollte sie rufen, wußte aber nicht, was ich sagen sollte. Die Masse der immensen schlafenden Burg schien mich niederzudrücken.
Schließlich klirrten die schweren Ketten. »Bist du das, kleine Tochter?« Ihre Stimme klang erschöpft. Nach einer Weile stand sie auf und kam nähergeschlurft. Selbst in dem schwachen Licht hatte sie das schreckliche Aussehen einer Sterbenden. Ich griff mit der Hand verstohlen an den Beutel, den ich um den Hals hängen hatte. Ich berührte meinen goldenen Baum, während ich ein stummes Gebet sprach, dann die Krümmung dieses anderen Gegenstands, den ich seit der Nacht bei mir trug, als meine Mutter gestorben war. In einem Augenblick, der von einem eigenen Licht erfüllt zu sein
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