Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
die er greifen und berühren konnte, daher wußte ich, er würde den Worten einer Hexe wenig Wert beimessen. Aber selbst wenn er mir glaubte, was hätte er tun können? Aufgrund einer Warnung von mir, seiner heimlichen Geliebten, einen Befehl von Lord Sulis verweigern? Nein, es wäre ein hoffnungsloses Unterfangen, wenn ich versuchen würde, Tellarin davon zu überzeugen, nicht zu gehen - er sprach fast so oft von seiner Loyalität seinem Herrn gegenüber wie von seiner Liebe zu mir.
    Ich litt die Qualen ängstlicher Neugier. Was hatte mein Stiefvater vor? Was hatte er in seinen Büchern gelesen, daß er nun nicht nur sein eigenes Leben aufs Spiel setzte, sondern auch das meines Liebsten?
    Ich wußte, keiner von ihnen würde mir etwas erzählen. Selbst die Hexe hatte gesagt, daß es nicht meine Sache sei. Was immer ich herausfinden wollte, mußte ich selbst herausfinden.
    Ich beschloß, einen Blick in diejenigen Bücher meines Stiefvaters zu werfen, die er vor mir und allen anderen versteckt hielt. Einst wäre das so gut wie unmöglich gewesen, aber heute konnte ich mich - weil er die ganzen dunklen Stunden der Nacht hindurch saß und las und schrieb und vor sich hin flüsterte - darauf verlassen, daß er schlafen würde wie ein Toter, wenn er einmal schlief.
     
    Ich schlich mich früh am nächsten Morgen in die Gemächer meines Stiefvaters. Er hatte die Diener schon vor Wochen weggeschickt, und die Leute in der Burg wagten nicht mehr, an seine Tür zu klopfen, es sei denn, sie wurden gerufen. Die Zimmer waren verlassen, von meinem Stiefvater und mir abgesehen.
    Er lag ausgestreckt auf seinem Bett, sein Kopf hing über den Rand der Matratze herab. Hätte ich nicht gewußt, wie enthaltsam er in fast jeder Hinsicht war, hätte ich aus seinen tiefen, röchelnden Atemzügen und den zerwühlten Laken den Schluß gezogen, daß er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrunken hatte; aber Sulis trank selten auch nur einen Becher Wein.
    Den Schlüssel für die abgeschlossenen Kisten trug er an einer Kordel um den Hals. Als ich ihn so behutsam, wie ich konnte, aus Sulis´ Hemdkragen zog, kam ich nicht umhin, zu sehen, wieviel glücklicher seine im Schlaf entspannten Züge wirkten. Die Furchen auf seiner Stirn waren nicht mehr so tief, sein Mund war nicht mehr zu der zerstreuten Grimasse verkrampft, die sein ständiger Gesichtsausdruck geworden war. In diesem Augenblick tat er mir leid, obwohl ich ihn für das haßte, was er der Hexe Valada angetan hatte. Welcher Wahnsinn in letzter Zeit auch über ihn gekommen sein mochte, er war ein gütiger Mann gewesen, auf seine Weise, zu seiner Zeit.
    Er regte sich und gab einen unartikulierten Laut von sich. Mit klopfendem Herzen sputete ich mich, ihm Kordel und Schlüssel über den Kopf zu ziehen.
    Als ich die Holzkisten gefunden und aufgeschlossen hatte, machte ich mich daran, die verbotenen Bücher meines Stiefvaters herauszuholen und zu studieren, indem ich eines nach dem anderen rasch und leise durchblätterte, während ich mit einem Ohr auf seine Atemgeräusche achtgab. Die meisten der schlicht eingebundenen Folianten waren in Sprachen verfaßt, die ich nicht verstand, zwei oder drei mit Buchstaben, die ich nicht einmal kannte. Diejenigen, die ich teilweise ein wenig verstand, enthielten entweder Geschichten vom Feenvolk oder Berichte über den Hochhorst zur Zeit der Nordmänner.
    Fast eine Stunde war verstrichen, als ich ein lose gebundenes Buch mit dem Titel Schriften von Vargellis Sulis, Siebenter Lord von Honsa Sulis, jetzt Herr des Sulischen Hauses im Exil fand. Die penible Handschrift meines Stiefvaters füllte die ersten Seiten völlig aus, danach wurde sie größer und krakeliger, bis sie auf den letzten Seiten fast das Gekritzel eines Kindes zu sein schien, das gerade erst schreiben lernt.
    Ein Geräusch vom Bett her erschreckte mich, aber mein Stiefvater hatte nur gegrunzt und sich auf die Seite gedreht. Ich blätterte das Buch, so rasch ich konnte, weiter durch. Es schien nur der jüngste Band der Niederschriften eines ganzen Lebens zu sein - die ersten Datumsangaben darin stammten aus dem ersten Jahr, das wir im Hochhorst verbracht hatten. Der Großteil der Seiten enthielt Listen mit Arbeiten, die beim Wiederaufbau des Hochhorsts zu erledigen waren, sowie wichtige Entscheidungen, die Sulis als Herr der Festung und der zugehörigen Ländereien getroffen hatte. Es gab weitere Anmerkungen persönlicherer Natur, doch die waren kurz und nüchtern. Zu jenem schrecklichen Tag

Weitere Kostenlose Bücher