Der siebte Schrein
Große Schwester meint, daß wir unartig gewesen sind. Jenna muß dort bleiben und über ihre Unverschämtheit nachdenken, bis Schwester Mary sie herausläßt.« Nach einer Pause fügte sie unvermittelt hinzu: »Wer ist das da neben dir? Kennst du ihn?«
Roland drehte den Kopf und sah, daß der junge Mann erwacht war und zugehört hatte. Seine Augen waren so dunkel wie die von Jenna.
»Ob ich ihn kenne?« fragte Roland mit dem, wie er hoffte, angemessenen Anflug von Verachtung in der Stimme. »Sollte ich meinen eigenen Bruder nicht kennen?«
»Ist er das wirklich, wo du so alt bist und er so jung?« Eine weitere Schwester schälte sich aus der Dunkelheit: Schwester Tamra, die sich als einsundzwanzig bezeichnet hatte. Kurz bevor sie an Rolands Bett trat, war ihr Gesicht das einer Vettel, die die Achtzig längst überschritten hatte . . . oder die Neunzig. Dann flimmerte es und war wieder das feiste, gesunde Antlitz einer dreißigjährigen Matrone. Abgesehen von den Augen. Ihre Netzhäute blieben gelblich, die Augenwinkel verklebt, der Blick wachsam.
»Er ist der jüngste, ich der älteste«, sagte Roland. »Zwischen uns liegen sieben andere und zwanzig Jahre im Leben unserer Eltern.«
»Wie süß! Und wenn er dein Bruder ist, wirst du seinen Namen kennen, oder nicht? Wirst ihn sehr gut kennen.«
Bevor der Revolvermann herumstottern konnte, sagte der junge Mann: »Sie denken, du hättest einen einfachen Namen wie John Norman vergessen. Was sind sie doch für Herzblättchen, was, Jimmy?«
Coquina und Tamra sahen den blassen Jungen im Bett neben Roland sichtlich wütend an . . . Sie waren eindeutig übertrumpft worden, zumindest vorerst.
»Ihr habt ihm eure Brühe gegeben«, sagte der Junge (dessen Medaillon ihn zweifellos als John, Geliebt von seiner Familie, Geliebt von GOTT auswies). »Warum geht ihr nicht und laßt uns ein Schwätzchen halten?«
»Nun!« schnaufte Schwester Coquina. »Mir gefällt die Dankbarkeit hier in der Gegend, das tut sie!«
»Ich bin dankbar für das, was mir gegeben wurde«, antwortete Norman und sah sie unverwandt an. »Aber nicht für das, was die Leute nehmen wollen.«
Tamra schnaubte durch die Nase, drehte sich so brüsk um, daß ihr wirbelnder Rock Roland einen Luftzug ins Gesicht schickte, und rauschte davon. Coquina blieb noch einen Moment.
»Seid artig, und vielleicht kommt jemand, den ihr lieber mögt als mich, schon am Morgen aus seiner Klausur statt erst in einer Woche.«
Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte sie sich um und folgte Schwester Tamra.
Roland und John Norman warteten, bis beide fort waren, dann drehte sich Norman zu Roland um und fragte mit leiser Stimme: »Mein Bruder. Tot?«
Roland nickte. »Ich habe das Medaillon mitgenommen, falls ich einem seines Volkes begegnen sollte. Es gehört rechtmäßig dir. Ich bedaure deinen Verlust.«
»Danke-Sai.« John Normans Unterlippe bebte ein wenig, beruhigte sich wieder. »Ich wußte, daß ihn die grünen Männer erledigt hatten, auch wenn es mir die alten Hühnchen hier nicht sagen wollten. Sie haben viele erledigt und den Rest verwundet.«
»Vielleicht wußten es die Schwestern nicht mit Sicherheit.«
»Sie wußten es. Zweifle nicht daran. Sie sagen nicht viel, aber sie wissen eine Menge. Die einzige, die anders ist, ist Jenna. Sie hat die alte Streitaxt gemeint, als sie von ›deiner Freundin‹ gesprochen hat. Aye?«
Roland nickte. »Und sie hat etwas von Dunklen Glocken gesagt. Darüber würde ich gern mehr erfahren, wenn möglich.«
»Sie ist etwas Besonderes, das ist Jenna. Mehr wie eine Prinzessin - jemand, der sich durch seine Abstammung eine Stellung verdient hat, die man ihr nicht verwehren kann - und nicht wie die anderen Schwestern. Ich liege hier und sehe so aus, als schliefe ich - ich glaube, das ist sicherer -, aber ich habe sie reden hören. Jenna ist erst kürzlich zu ihnen zurückgekehrt, und diese Dunklen Glocken haben etwas Besonderes zu bedeuten . . . aber Mary ist nach wie vor diejenige, die das Kommando hat. Ich glaube, die Dunklen Glocken sind nur etwas Zeremonielles, wie die Ringe, die die alten Barone vom Vater an den Sohn weitergegeben haben. War sie es, die dir Jimmys Medaillon um den Hals gelegt hat?«
»Ja.«
»Nimm es nicht ab, was immer du auch tust.« Sein Gesicht sah verkniffen und grimmig aus. »Ich weiß nicht, ob es am Gold oder an dem Gott liegt, aber sie kommen nicht gern in seine Nähe. Ich glaube, das ist der einzige Grund, warum ich noch hier bin.« Nun senkte er die
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