Der siebte Schrein
der zunehmenden Schwärze, die Rolands Kopf ausfüllte. »Was sie dir in die Suppe getan haben, ist nicht nur Schlafmedizin, es ist auch Kann-mich-nicht-bewegen-Medizin. Mit mir ist eigentlich alles in Ordnung, Bruder . . . was meinst du also, warum ich noch hier bin?«
Norman sprach jetzt nicht mehr von jenseits der Erdkrümmung, sondern vielleicht vom Mond. Er sagte: »Ich glaube nicht, daß einer von uns jemals wieder die Sonne auf ein flaches Fleckchen Erde scheinen sehen wird.«
Da irrst du dich, versuchte Roland zu antworten, und wollte noch mehr hinzufügen, aber nichts kam heraus. Er segelte zur dunklen Seite des Mondes und verlor sämtliche Worte in der Leere, die er dort vorfand.
Aber völlig verlor er nie das Bewußtsein. Vielleicht war die Dosis »Medizin« in Schwester Coquinas Suppe zu knapp bemessen gewesen, vielleicht hatten sie auch nur noch nie einen Revolvermann gehabt, mit dem sie ihren Schabernack treiben konnten, und wußten nicht, daß sie es jetzt mit einem zu tun hatten.
Abgesehen natürlich von Schwester Jenna - die wußte es.
Irgendwann in der Nacht holten ihn flüsternde, kichernde Stimmen und das leise Klingeln von Glöckchen aus der Dunkelheit zurück, wo er weder ganz schlafend noch völlig bewußtlos gewesen war. Um ihn herum sangen die »Ärzte« so konstant, daß er es kaum registrierte.
Roland schlug die Augen auf. Er sah blasses, erratisches Licht in der Dunkelheit tanzen. Das Kichern und Flüstern war näher. Roland versuchte, den Kopf zu drehen, und konnte es zuerst nicht. Er ruhte sich aus, konzentrierte seine ganze Willenskraft zu einem harten blauen Ball und versuchte es noch einmal. Diesmal konnte er den Kopf drehen, nur ein wenig, aber ein wenig war genug.
Es waren fünf der Kleinen Schwestern - Mary, Louise, Tamra, Coquina, Michela. Sie kamen gemeinsam den langen Mittelgang des Lazaretts entlang, lachten miteinander wie Kinder über einen Streich und trugen lange Wachskerzen in silbernen Haltern; die Glöckchen an den Stirnbändern ihrer Hauben ließen kurze silberne Tonfolgen erklingen. Sie versammelten sich um das Bett des bärtigen Mannes. Aus ihrem Kreis schien Kerzenlicht als flackernde Säule auf, die abbrach, bevor sie die halbe Strecke bis zur Seidendecke zurückgelegt hatte.
Schwester Mary sprach knapp. Roland erkannte ihre Stimme, verstand aber die Worte nicht - es war weder Nieder- noch Hochsprache, sondern eine vollkommen andere Sprache. Ein Ausdruck fiel ihm auf - can de lach, mi him en tow -, aber er hatte keine Ahnung, was das bedeuten konnte.
Ihm fiel auf, daß er nur noch das Klingeln der Glöckchen hören konnte - die Ärzte-Käfer waren verstummt.
»Ras me! On! On!« rief Schwester Mary mit einer rauhen, kräftigen Stimme. Die Kerzen erloschen. Das Licht, das hinter ihren Hauben geleuchtet hatte, als sie sich um den bärtigen Mann versammelten, erlosch ebenfalls, und alles wurde wieder dunkel.
Roland, dem kalt war, wartete darauf, was als nächstes passieren würde. Er versuchte, Hände oder Füße zu beugen, konnte es aber nicht. Es war ihm gelungen, den Kopf um etwa fünfzehn Grad zu drehen; sonst war er gelähmt wie eine Fliege, die fein säuberlich eingesponnen in einem Spinnennetz hing.
Das leise Klingeln der Glöckchen in der Schwärze . . . und dann saugende Geräusche. Kaum hörte er sie, wurde Roland klar, daß er darauf gewartet hatte. Ein Teil von ihm hatte die ganze Zeit gewußt, was die Kleinen Schwestern von Eluria waren.
Hätte Roland die Hände heben können, er hätte sie auf die Ohren gepreßt, um die Geräusche nicht hören zu müssen. So aber konnte er nur reglos liegen, zuhören und warten, bis sie aufhörten.
Lange Zeit - die ihm wie eine Ewigkeit vorkam - hörten sie nicht auf. Die Frauen schlürften und grunzten wie Schweine, die halbflüssige Nahrung aus einem Trog fraßen. Einmal war sogar ein herzhafter Rülpser zu vernehmen, gefolgt von neuerlichem flüsterndem Kichern (das verstummte, als Schwester Mary ein einziges barsches Wort ausstieß - »Hais!« ). Und einmal hörte man einen leisen, stöhnenden Schrei - von dem bärtigen Mann, da war Roland ganz sicher. Wenn ja, war es sein letzter auf dieser Seite der Lichtung.
Nach einiger Zeit ließen die Geräusche ihrer Nahrungsaufnahme nach. Die Käfer fingen wieder an zu singen - zuerst zögernd, dann selbstsicherer. Das Flüstern und Kichern fing wieder an. Die Kerzen wurden angezündet. Roland hatte inzwischen den Kopf in die andere Richtung gedreht. Sie sollten
Weitere Kostenlose Bücher