Der siebte Schrein
eine gute Krankenschwester sein, und hübsch, aber Roland fand, daß sie eine schlechte Lügnerin war. Das freute ihn. Gute Lügner gab es viele. Ehrlichkeit, auf der anderen Seite, war Mangelware.
Laß die Unwahrheit vorerst durchgehen, sagte er zu sich. Ich fürchte, sie sagt sie aus Furcht.
»Jenna!« Der Ruf ertönte aus den dunkleren Schatten am anderen Ende des Lazaretts - das dem Revolvermann heute länger denn je vorkam -, und Schwester Jenna zuckte schuldbewußt zusammen. »Komm her! Du hast genug Worte gewechselt, um zwanzig Männer zu unterhalten! Laß ihn schlafen!«
»Aye!« rief sie und drehte sich zu Roland um. »Verrate nicht, daß ich dir die Ärzte gezeigt habe.«
»Meine Lippen sind versiegelt, Jenna.«
Sie verharrte, biß sich wieder auf die Lippe und schob plötzlich ihre Haube zurück. Die Haube fiel unter leisem Glockengeläut auf ihren Rücken. Das aus seinem Gefängnis befreite Haar umspielte ihre Wangen wie Schatten.
»Bin ich hübsch? Bin ich es? Sag mir die Wahrheit, Roland von Gilead - keine Schmeichelei. Schmeichelei ist nur eine Kerzenlänge lang gütig.«
»Hübsch wie eine Sommernacht.«
Was sie in seinem Gesicht sah, schien sie mehr zu erfreuen als seine Worte, denn sie lächelte strahlend. Sie zog die Haube wieder auf und steckte das Haar mit blitzschnellen, knappen Bewegungen ihrer Finger darunter. »Sehe ich anständig aus?«
»So anständig wie hübsch«, sagte er, dann hob er vorsichtig einen Arm und zeigte auf ihre Stirn. »Eine Locke schaut heraus . . . genau da.«
»Aye, es ist immer diese eine, die mir einen Streich spielt.« Mit einer komischen kurzen Grimasse schob sie die Locke zurück. Roland überlegte sich, wie gern er ihre rosigen Wangen geküßt hätte . . . und vielleicht obendrein auch ihren rosigen Mund.
»Alles an seinem Platz«, sagte er.
»Jenna!« Der Ruf klang ungeduldiger denn je. »Meditation!«
»Ich komme sofort!« rief sie zurück und raffte ihre voluminösen Röcke, um zu gehen. Aber sie wandte sich noch einmal um, und nun war ihr Gesicht sehr streng und ernst. »Eines noch«, sagte sie mit einer Stimme, die nur ein Hauch lauter als ein Flüstern war. Sie warf hastig einen Blick hinter sich. »Das goldene Medaillon, das du trägst - das trägst du, weil es deins ist. Hast du verstanden . . . James?«
»Ja.« Er drehte den Kopf ein wenig und sah den schlafenden Jungen an. »Das ist mein Bruder.«
»Wenn sie dich fragen, ja. Alles andere würde Jenna in große Schwierigkeiten bringen.«
In wie große, fragte er nicht, aber sie hatte sich ohnehin schon entfernt und schien mit dem gerafften Rock in einer Hand an den freien Betten vorbei durch den Mittelgang zu schweben. Die Rosen waren aus ihrem Gesicht verschwunden, so daß ihre Wangen und Stirn wie Asche wirkten. Er erinnerte sich an die gierigen Mienen der anderen, wie sie sich immer enger um ihn geschart hatten . . . und wie ihre Gesichter geflimmert hatten.
Sechs Frauen, fünf alt und eine jung.
Ärzte, die sangen und auf dem Boden davonkrabbelten, wenn sie von läutenden Glöckchen verscheucht wurden.
Und eine merkwürdige Krankenstation mit rund hundert Betten, eine Station mit Decke und Wänden aus Seide . . .
. . . und alle Betten leer, bis auf drei.
Roland wußte nicht, weshalb Jenna das Medaillon des toten Jungen aus seiner Hosentasche genommen und es ihm um den Hals gelegt hatte, vermutete aber, wenn sie es herausfanden, würden die Kleinen Schwestern von Eluria sie dafür töten.
Roland machte die Augen zu, und der leise Gesang der Ärzte-Insekten lullte ihn wieder in den Schlaf.
IV. Ein Teller Suppe. Der Junge im Nachbarbett. Die Nachtschwestern.
Roland träumte, daß ein sehr großer Käfer (möglicherweise ein Ärzte-Käfer) um seinen Kopf flog und mehrfach gegen seine Nase stieß - Zusammenstöße, die eher ärgerlich als schmerzhaft waren. Er schlug wiederholt nach dem Käfer, und obwohl seine Hände unter normalen Umständen unheimlich schnell waren, verfehlte er ihn immer. Und jedesmal, wenn er ihn verfehlte, kicherte der Käfer. Ich bin langsam, weil ich krank war, dachte er.
Nein, in einen Hinterhalt geraten bin. Von Langsamen Mutanten über die Erde geschleift, von den Kleinen Schwestern von Eluria gerettet.
Plötzlich sah Roland deutlich das Bild vom Schatten eines Mannes vor sich, der aus dem Schatten eines umgestürzten Wagens wuchs; hörte eine rauhe, hämische Stimme rufen: »Buh!«
Er erwachte und zuckte so heftig zusammen, daß sein ganzer Körper in
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