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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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sollte, betrachtete ich die Bildwerke an den Wänden, zierliche Ranken und Blumen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Über einem Türrahmen saß eine Nachtigall auf dem Ast eines Baumes. Ein anderer Ast schmückte die gegenüberliegende Tür, oder, besser gesagt, es waren zwei Äste ein und desselben Baums, wie ich sah, als ich die Kerze bewegte, der direkt über mir ausgehauen worden war und sich über die Decke des Treppenhauses erstreckte, als wäre ich der Baumstamm. Um den Ast über der anderen Tür wand sich eine zierliche Schlange. Ich erschauerte und ging auf die Tür der Nachtigall zu, aber in diesem Augenblick drangen Worte aus der Dunkelheit herauf.
    ». . . wenn du mich belogen hast. Ich bin ein geduldiger Mann, aber . . .«
    Es war mein Stiefvater, und selbst wenn ich die leise Stimme nicht erkannt hätte, hätte ich ihn an der Wortwahl erkannt, denn dies war etwas, das er immer wieder sagte. Und er sprach die Wahrheit - er war ein geduldiger Mann. Er war immer wie einer der Steine der Mauern des Hügels gewesen, kühl und hart und ohne Hast, und er wurde erst richtig warm, wenn die Sonne eines ganzen Sommers auf ihn geschienen hatte. Manchmal war mir zumute gewesen, als hätte ich ihn mit einem Stock prügeln müssen, damit er sich nur einmal umdrehte und mich richtig ansah.
    Ich war der Meinung gewesen, daß er das nur einmal getan hatte - am Tag, als er mir sagte, daß »sie« ihm alles weggenommen hatten. Aber jetzt wußte ich, er hatte mich noch einmal angesehen, hatte mich an einem Tag, als mein Liebster mir ein Geschenk brachte oder einen Kuß gab, lächeln gesehen und in sein Buch geschrieben: »Breda heute glücklich.«
    Die Worte meines Stiefvaters waren durch die andere Tür gekommen. Ich zündete eine neue Kerze an, drückte sie auf die erste, die fast bis zum Halter heruntergebrannt war, und folgte der Stimme von Sulis durch die Tür der Schlange.
     
    Abwärts ging ich, und immer weiter abwärts - was mir wie eine stundenlange Wanderschaft durch schräge, längst verlassene Flure vorkam, die sich dahinschlängelten wie Garn, das aus einem Beutel fiel. Das Licht der Kerzen zeigte mir Steine, die, wie ich wußte, sogar noch älter waren, aber neuer und heller zu sein schienen als die, die ich weiter oben gesehen hatte. An manchen Stellen führten die Durchgänge in Räume voll Dreck und Geröll, die aber riesig gewesen sein mußten, mit Decken so hoch wie die der größten Säle, von denen ich je in Nabban gehört hatte. Die Bildwerke, die ich sah, waren so fein gearbeitet, so perfekt, daß sie ihre natürlichen Vorbilder - Vögel, Pflanzen, Bäume - hätten sein können, die von Zaubersprüchen in Stein gebannt worden waren, die in den Geschichten Ulcas und meiner Mutter so oft eine Rolle gespielt hatten.
    Es war ein erstaunlicher Gedanke, daß diese ganze Welt schon in ihrer irdenen Gruft lag, seit wir im Hochhorst lebten, und schon Generationen zuvor. Ich wußte, ich sah das urzeitliche Heim des Feenvolks. Allen Geschichten zum Trotz, und selbst mit dem Turm als Beweis, hätte ich mir nie träumen lassen, daß sie so gut mit Stein umgehen, ihn wie Wasser schäumen und wie Eis funkeln lassen, ihn hoch droben zu schlanken Bögen formen konnten, die den zierlichsten Zweigen einer Weide glichen. Hatten die Nordmänner sie wirklich alle getötet? Zum erstenmal begriff ich ein wenig, was das bedeutete, und ein tiefes, leises Grauen kam über mich. Die Schöpfer dieser Schönheit abgeschlachtet, ihre Häuser von den Schlächtern in Besitz genommen - kein Wunder, daß die Dunkelheit von unruhigen Stimmen erfüllt war. Kein Wunder, daß der Hochhorst ein Ort qualvoller Traurigkeit für alle war, die darin lebten. Die Burg unserer Tage gründete sich auf uralten Mord. Sie war auf dem Tod errichtet worden.
    Dieser Gedanke setzte mir zu. In meinem Geist verschmolz er mit der Erinnerung an das geistesabwesende Starren meines Stiefvaters, an die Hexe in Ketten. Nichts Gutes konnte aus dem Bösen kommen, da war ich sicher. Nicht ohne Opfer. Nicht ohne Blut und Sühne.
    Meine Furcht nahm wieder zu.
     
    Die Friedfertigen mochten fort sein, aber ich fand heraus daß ihr großes Haus von Leben beseelt blieb.
    Als ich weiter nach unten eilte und den Spuren meines Stiefvaters und seiner Gefährten im Staub der Jahrhunderte folgte, stellte ich plötzlich fest, daß ich falsch abgebogen war. Der Durchgang endete an einem Geröllhaufen, und als ich zur letzten Kreuzung zurückkehrte, konnte ich keine

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