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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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ich dir nicht schon gegeben, was mich zur Frau macht?«
    Mein Soldat war kurz angebunden und hörte die Liebe in meinen Worten nicht. »Jede, die keine Ruhe gibt, wenn man sie darum bittet, beweist damit, daß sie noch ein Kind ist. Und ich bin ein Mann, weil ich das Abzeichen eines Soldaten trage und mein Leben geben muß, wenn mein Herr es verlangt.«
    Tellarin war fünf Jahre älter als ich, und in jenen längst vergangenen Tagen war ich von dem Unterschied fast so sehr beeindruckt wie er, aber heute glaube ich, daß alle Männer jünger sind als ihre Frauen, besonders wenn ihre Ehre im Spiel ist.
    Als er die Decke anstarrte, trat Ernst an die Stelle des Zorns in seiner Miene, und ich wußte, daß er daran dachte, was er in dieser Nacht tun mußte. Ich hatte auch Angst, daher küßte ich ihn wieder, diesmal zärtlich, und entschuldigte mich.
    Als er sich unter vielen Vorwänden, die seine eigentliche Aufgabe verbergen sollten, verabschiedet hatte, bereitete ich mich auf meinen eigenen Ausflug vor. Ich hatte meinen dicksten Mantel und sechs große Kerzen an einer Stelle versteckt, wo Ulca und die anderen Gesindefrauen sie nicht finden würden. Als ich angekleidet und bereit war, berührte ich den goldenen Baum meiner Mutter, der an meinem Herzen ruhte, und betete fur die Sicherheit aller, die mit mir in die Dunkelheit gehen würden.
     
    Steinigungsnacht - die letzte Nacht des Avrel am Vorabend des Monats Maia, die schwarzen Stunden, wenn den Geschichten zufolge die Geister auf Erden wandeln, bis sie von der Dämmerung und dem Krähen des Hahns in ihre Gräber zurückgetrieben werden. Der Hochhorst erstreckte sich stumm um mich herum, während ich meinem Liebsten und den anderen durch die Dunkelheit folgte. Mir kam es nicht so vor, als schliefe die gewaltige Festung, sondern als hielte sie wartend den Atem an.
    Es gibt eine Treppe unter dem Engelsturm, und dorthin waren sie unterwegs. In dieser Nacht erfuhr ich zum erstenmal davon, als ich, in meinen dunklen Mantel gehüllt, im Schatten der dem Turm gegenüberliegenden Mauer stand und lauschte. Es waren vier, denen ich folgte - mein Stiefvater, Tellarin und sein Freund Avalles, und die Frau Valada. Trotz der Abmachung, die sie getroffen hatten, waren die Arme der Hexe noch in Ketten. Es schmerzte mich, sie wie ein Tier gefesselt zu sehen.
    Die Arbeiter, die den Turm wiederherstellten, hatten einen rauhen Holzboden auf die geborstenen Steinplatten des alten gelegt - vielleicht um zu gewährleisten, daß niemand in eines der zahlreichen Löcher fiel, vielleicht auch nur, um Zugänge zu den tiefsten Verliesen der Burg zu versperren. Einige hatten sogar vorgeschlagen, daß der gesamte Boden der alten Burg unter Steinplatten versiegelt werden sollte, damit auf diesem Weg nichts nach oben kommen und den Schlaf gottesfürchtiger Leute stören konnte.
    Wegen dieses Holzbodens wartete ich eine lange Zeit, bis ich ihnen durch das äußere Portal des Turms folgte, weil ich wußte, daß mein Stiefvater und seine beiden Getreuen einige Zeit brauchen würden, um die Dielen zu entfernen. Während ich im Schatten der Turmmauer wartete und der Wind durch den Inneren Zwinger heulte, dachte ich an den Engel, der auf der Turmspitze stand, die Statue einer Frau, schwarz vom Ruß der Jahrhunderte, den kein Regen abwaschen konnte, etwas schräg, als würde sie das Gleichgewicht verlieren und stürzen. Wer war sie? Eine der gesegneten Heiligen? War sie ein Omen - würde sie über mich wachen, so wie ich über Tellarin und die anderen wachen wollte? Ich schaute nach oben, aber die Spitze des hohen Turms war in der Nacht nicht zu sehen.
    Schließlich versuchte ich mein Glück an der Klinke der Turmtür und stellte fest, daß der Riegel nicht vorgeschoben worden war. Ich hoffte, das bedeutete, daß der Engel tatsächlich über mich wachte.
    Ins Innere des Turms drang kein Mondlicht, daher zündete ich noch unter der Tür die erste Kerze mit dem verborgenen Zunderholz an, das fast heruntergebrannt war. Meine Schritte kamen mir in der aus Stein gemauerten Eingangshalle beängstigend laut vor, aber niemand trat aus den Schatten und fragte mich, was ich an jenem Ort verloren hätte. Ich hörte keinen Laut von meinem Stiefvater oder den übrigen.
    Ich verweilte einen Moment vor der großen Wendeltreppe nach oben und fragte mich unwillkürlich, was die Arbeiter finden würden, wenn sie die Trümmer beseitigt hatten und die Spitze erreichten - und das frage ich mich all die Jahre später immer

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