Der siebte Schrein
Das ist das Gut auf der anderen Seite des Kakisaw-Tals.« Er zeigte nach Westen. »Drei Tage von hier. Ich trage Feuerholz.«
Borric nickte. »Ich kenne das Anwesen. Über die Jahre habe ich Lord Paul viele Male besucht. Es ist fünfunddreißig Meilen von hier, und zwanzig hinter den feindlichen Linien.« Er zeigte auf den Schlitten und fragte: »Was ist das?«
Erschöpft antwortete der Junge: »Das ist der Schatz meines Herrn. Sie ist seine Tochter. Der Mann ist ein Mörder. Er war einmal mein Freund.«
»Du kommst besser herein und erzählst mir deine Geschichte«, sagte Borric. Er gab ein Zeichen, damit zwei Soldaten die Seile nahmen, die der Junge als Geschirr benutzte, um den Schlitten aus dem Weg zu ziehen, und winkte einem anderen Mann, damit er dem erschöpften Jungen half.
Der Herzog führte den Jungen ins Innere und ließ ihn wissen, daß er die Erlaubnis hatte, sich zu setzen. Er gab einer Ordonnanz ein Zeichen, damit der Mann dem Jungen eine Tasse heißen Tee und etwas zu essen brachte, und als der Soldat sich beeilte, dem Befehl Folge zu leisten, sagte Borric: »Warum fängst du nicht am Anfang an, Dirk?«
Mit dem Frühling kamen die Tsurani. Schon im Jahr zuvor hatte man ihre Anwesenheit in den Grauen Türmen gemeldet und unheilvolle Meldungen über eine Invasion sowohl von den Regenten des Königreichs auf der anderen Seite der Berge wie auch von den bedeutenderen Kaufleuten und Adligen in den anderen Freistädten überbracht. Aber die Geschichten, die die Meldungen begleiteten, von wilden Kriegern, die auf magische Weise aus dem Nichts auftauchten, wurden skeptisch und zweifelnd aufgenommen. Und die Kämpfe zwischen Borric von Crydees Soldaten, den Zwergen und den Invasoren droben in den Bergen schienen sich in weiter Entfernung abzuspielen.
Bis zur ersten Warnung durch die Waldhüter von Natal - die sofort weitergeritten waren, um anderen Bescheid zu sagen -, denen am Tag darauf eine Kolonne gedrungener Männer in bunten Rüstungen folgten, die auf der Straße auftauchten und sich dem Gut Weißbergen näherten.
Lord Paul hatte seiner Leibwache befohlen, in Bereitschaft zu stehen, aber keinen Widerstand zu leisten, es sei denn, sie würden provoziert. Dirk und die anderen Mitglieder des Haushalts standen hinter dem Lord und seinen bewaffneten Wachen.
Dirk sah zu seinem Herrn und stellte fest, daß er allein dort stand; seine Tochter war noch im Haus. Dirk fragte sich, welchen zusätzlichen Schutz der Herr als für seine junge Tochter erforderlich erachtete.
Dirk fand die Haltung des Hausherrn bewundernswert. Die Geschichten von der Grausamkeit der Tsurani machten seit den ersten Kämpfen die Runde, und die Freistädte waren bei der Verteidigung voll und ganz vom Königreich abhängig. Landgüter wie Weißbergen und die anderen Anwesen rund um Walinor waren schlicht und einfach auf sich allein gestellt. Und doch stand Lord Paul in seinem formellen Gewand, dem scharlachroten mit Hermelinkragen, reglos da, ohne eine Spur von Furcht. Seit das Kaiserreich Groß-Kesh seine nördlichen Kolonien vor einem Jahrhundert aufgegeben hatte, war keinem Bürger mehr ein Erbtitel verliehen worden, aber die Familien mit uralten Titeln trugen sie voller Stolz. Wie andere Edelleute in den Freistädten betrachtete er die Ansprüche anderer Leute auf Titel mit Mißfallen, hielt seinen eigenen aber in Ehren.
Als die Invasoren ruhig heranmarschierten, wurde offensichtlich, daß jeder Widerstand rasch niedergeschlagen worden wäre. Paul verfügte über eine persönliche Leibwache und eine Schar gedungener Söldner, die als Geleitschutz für die Wagen und Schutz gegen marodierende Banditen dienten. Aber im Vergleich mit der disziplinierten Truppe, die quer über das Anwesen marschierte, waren sie eine armselige Bande von Halsabschneidern. Die Tsurani trugen Rüstungen in grellem Orange und Schwarz, die wie lackiertes Fell oder Holz aussahen und nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Rüstungen aus Metall hatten, wie die Verteidiger von Natal sie trugen.
Paul wiederholte den Befehl, daß kein Widerstand geleistet werden solle, und als sich der Befehlshaber der Tsurani zu erkennen gab, entbot ihm Paul so etwas wie einen formellen Gruß. Danach erteilte der Anführer der Invasoren mittels eines Mannes in schwarzer Robe seine Befehle. Das Anwesen Weißbergen unterstand nun, genau wie das Umland, der Hoheit der Tsurani, und zwar einem Wesen namens Minwanabi. Dirk fragte sich, ob das eine Person oder ein Ort war, so
Weitere Kostenlose Bücher