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Der siebte Schrein

Der siebte Schrein

Titel: Der siebte Schrein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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entgegenstreckte. »Möchtest du das nicht mitnehmen?«
    »Setz sie auf und trag sie als Nachthaube, mir egal. Oder schieb sie dir in den Arsch. Du wirst reden, bevor ich mit dir fertig bin, Hübscher - reden, bis ich dir befehle, zu schweigen, und dann wirst du betteln, daß du weiterreden darfst!«
    Mit dieser Drohung rauschte sie wie eine Königin davon und raffte mit beiden Händen ihren Rocksaum vom Boden hoch. Roland hatte gehört, daß Wesen von ihrer Art nicht im hellen Tageslicht existieren konnten, und dieser Teil der alten Geschichten war offenbar eine Lüge. Aber anscheinend stimmte ein anderer Teil fast völlig: Ein verschwommener, amorpher Schemen hielt mit ihr Schritt und wanderte über die Reihe freier Betten rechts von ihr, aber sie warf überhaupt keinen richtigen Schatten.
    VI. Jenna. Schwester Coquina. Tamra, Michela, Louise. Der Kreuzhund. Was im Salbei geschah.
    Es war einer der längsten Tage in Rolands Leben. Er döste, aber nie tief; die Rispen taten ihre Wirkung, und langsam glaubte er, daß er mit Jennas Hilfe tatsächlich hier herauskommen würde. Blieb die Frage seiner Revolver - aber vielleicht konnte sie ihm auch dabei behilflich sein.
    Er verbrachte die langen Stunden damit, daß er an alte Zeiten dachte - an Gilead und seine Freunde, an den Rätselwettbewerb, den er einmal auf dem Jahrmarkt von Weite Erde fast gewonnen hätte. Am Ende hatte ein anderer die Gans mit nach Hause genommen, aber er hatte seine Chance gehabt, aye. Er dachte an seine Mutter und seinen Vater; er dachte an Abel Vannay, der hinkend durch ein Leben sanftmütiger Güte gegangen war, und an Eldred Jonas, der hinkend durch ein Leben des Bösen gegangen war . . . bis Roland ihn eines schönen Tages in der Wüste aus dem Sattel gepustet hatte.
    Er dachte, wie immer, an Susan.
    Wenn du mich liebst, dann liebe mich, hatte sie gesagt . . . und das hatte er getan.
    Das hatte er getan.
    Auf diese Weise verging die Zeit. Ungefähr in stündlichen Intervallen holte er einen der Halme unter seinem Kissen hervor und kaute darauf. Nun zitterten seine Muskeln nicht mehr so heftig, wenn der Wirkstoff in seinen Kreislauf gelangte, und auch sein Herz schlug nicht mehr so schnell. Die Medizin in den Rispen mußte nicht mehr so erbittert gegen die Medizin der Schwestern kämpfen, dachte Roland; die Rispen blieben siegreich.
    Die diffuse Helligkeit der Sonne wanderte über die weiße Seidendecke der Station, und schließlich erhob sich wieder das Halbdunkel, das stets auf der Höhe der Betten zu lauern schien. An der Westwand erblühte die rosa, ins Orange spielende Farbe des Sonnenuntergangs.
    An diesem Abend brachte ihm Schwester Tamra das Essen - Suppe und wieder eine Pastete. Außerdem legte sie eine Wüstenlilie neben seine Hand. Sie lächelte, als sie das tat. Ihre Wangen leuchteten. Sie alle leuchteten heute, wie Egel, die sich vollgesogen hatten, bis sie fast platzten.
    »Von deiner Freundin, Jimmy«, sagte sie. »Sie ist so nett zu dir! Die Lilie bedeutet: ›Vergiß mein Versprechen nicht.‹ Was hat sie dir denn versprochen, Jimmy, Bruder von Johnny?«
    »Daß sie mich wiedersehen wird und wir uns unterhalten.«
    Tamra lachte so sehr, daß die Glöckchen an ihrer Stirn läuteten. Sie schlug vor ekstatischer Wonne die Hände zusammen. »Süß wie Honig! O ja!« Sie bückte sich und sah Roland lächelnd an. »Traurig, daß so ein Versprechen niemals eingehalten werden kann. Du wirst sie nie wiedersehen, hübscher Mann.« Sie nahm die Schüssel. »Die Große Schwester hat´s entschieden.« Sie stand lächelnd auf. »Warum nimmst du dieses häßliche goldene Sigul nicht ab?«
    »Lieber nicht.«
    »Dein Bruder hat es abgenommen - schau!« Sie zeigte in den Mittelgang, und Roland erblickte das Goldmedaillon weit hinten, wo es gelandet war, als Ralph es weggeworfen hatte.
    Schwester Tamra sah ihn, immer noch lächelnd, an.
    »Er hat sich zu der Überzeugung durchgerungen, daß es ein Teil dessen ist, was ihn krank macht, und es weggeworfen. Du solltest dasselbe tun, wenn du schlau bist.«
    Roland wiederholte: »Lieber nicht.«
    »So«, sagte sie abweisend und ließ ihn allein mit den freien Betten, die im dunkler werdenden Raum leuchteten.
    Roland hielt trotz seiner zunehmenden Müdigkeit durch, bis die heißen Farben, die auf der Westwand der Krankenstation bluteten, zu Asche erkaltet waren. Dann kaute er an einer der Rispen und fühlte Stärke in seinem Körper erblühen - echte Stärke, keinen zappelnden, herzklopfenden

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