Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Als Mina sich mit einem Flattern in der Brust umdrehte, saß sie im Gras, der Mantel war an ihr heruntergerutscht und umhüllte sie mit schwachem, bläulichem Schein. Sie lächelte und schüttelte gleichzeitig den Kopf.
»Es ist der Pug, nicht wahr?«, flüsterte sie, leise wie das Gras, das neben ihr raschelte. »Was die Nixe gesagt hat? Ich hatte gehofft, du wärst zu aufgeregt, um ihr richtig zuzuhören … Mina, glaub mir, du kannst nicht allein zu ihm gehen. Hast du nicht aufgepasst? Er ist gefährlich. Und du kennst den Weg nicht.«
Mina nickte, und irgendwie verstand Rosa es richtig.
»Du glaubst, du kennst den Weg? Mina, hör mir zu. Es ist zu gefährlich für dich allein. Warte bis morgen früh, wir kommen mit dir.«
Mina schüttelte heftig den Kopf, und der harte Kloß, der in ihrer Kehle saß, machte ihr das Atmen schwer.
Rosa stützte die Arme auf die Schenkel. Ihre Augen glitzerten auf, als sie zur anderen Seite des Lagers hinübersah; dorthin, wo ein größerer dunkler Schemen Viorel war, der schlief und träumte.
»Gut«, flüsterte sie, so scharf, dass es fast wie ein Zischen klang. »Gut, wenn du nicht warten willst - dann komme ich eben jetzt mit dir.«
Sie stand auf, ohne das leiseste Geräusch zu machen, kümmerte sich nicht um Minas erschrockene, abwehrende Gesten. Als der Mantel zu Boden fiel, hob sie ihn auf und drückte ihn sich einen Augenblick an die Wange.
»Wie lieb von dir«, wisperte sie, und ihre Stimme wurde weicher. »Er ist so hübsch …«
Lautlos wie ein Nachtvogel mit flatternden, hellblauen Flügeln huschte sie zu Lilja und Zinni, breitete den Mantel über ihnen aus. Sie kam nicht gleich zurück; einen Augenblick schien sie gebückt neben ihnen zu stehen, soweit Mina es in dem schwachen Licht erkennen konnte. Hinterließ sie ihnen ein zweites Zeichen? Oder sagte sie tonlos Lebwohl?
Es wäre der letzte Moment gewesen, um allein zwischen den schwarzen Bäumen zu verschwinden.
Mina rührte sich nicht.
Starr ragte der Steg in den schweigenden See. Wie das Gerippe eines riesigen, rätselhaften Wesens, vor unendlicher Zeit an seinen Platz gebannt. Der weiße Dunst umfing die hölzernen Beine, umhüllte den modernden Plankenleib. Wie weit es sich in die Nebel streckte, so dass sein Kopf nicht zu sehen war, wie lang es sich dehnte, hinaus, hinaus auf das fahle Wasser. Wie die Zehen in den Stiefeln anfingen, sich nach dem Gefühl des knackenden Holzes unter den Sohlen zu sehnen …
Mina wandte den Blick ab. Wie leicht es war, sie zu sehen: die Schleier, wie sie über die Bohlen wehten, die Tränen, die brannten und die nur das Seewasser löschen konnte. Sie
musste ihr Herz mit beiden Händen festhalten, damit es nicht im Kummer ertrank.
Unter den Lidern spähte sie nach dem schwachen Glitzern des Zuflusses, an den sie sich zu erinnern meinte. War es rechts gewesen, wo Farne dicht am Ufer schwarze Fächerschatten warfen? Links, wo Steine sich türmten wie graue Seufzer?
Erleichtert spürte sie, wie Rosa ihre Hand nahm und sie auf die andere Seite des Steges zog. Dort hörte sie es selbst, das Säuseln und Singen von fließendem Wasser, kräftiger, entschiedener als der kleine Bach beim Taterlock. Die Bäume neigten sich über eine schmale Gasse, deren Boden aus Wellen bestand. Vorsichtig tastete Mina in dem weichen Uferrand nach Halt.
Die Nixe war nirgendwo zu sehen. Vielleicht trieb sie dicht unter der Wasseroberfläche dahin, schwache, bewegte Lichtmuster in den langen Haaren wie Kämme; träumte Nixenträume von grünen, tiefen Weihern, von brausenden Salzwogen. Vielleicht zählte sie am Grund des Sees die Menschenschätze, die sie angesammelt hatte, die gegebenen und die genommenen, die verlorenen Schmuckstücke und die Boote, die sie mit ihrem langen, blassen Arm hinabgezogen hatte. Und vielleicht war auch eines darunter, zu schäbig fast für einen Schatz: ein zartes, schlichtes Kettchen, an einem Stein verfangen …
»Komm«, flüsterte Rosa, und es klang, als presste sie die Lippen aufeinander. »Komm, hier entlang. Und vorsichtig. Es ist ein tiefer, kalter Fluss.«
Der Ufersaum war so schmal, dass sie sich voneinander lösen mussten, wenn sie ihm folgen wollten. Aber alles in Mina sträubte sich dagegen, Rosas Hand loszulassen, solange
sie noch so nah am See waren. Sie blieb stehen, anstatt voranzugehen, drehte den Kopf hin und her, als müsste sie erst die Umgebung noch genauer in Augenschein nehmen. Rosa wartete geduldig.
Über dem Fluss waren die Baumkronen
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