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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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»Still, Pipa, still.«

    Mina zog fröstelnd die Schultern zusammen. Dicht hinter den Bäumen blieben sie stehen, als fürchteten sie sich davor, die mächtigen Schatten ganz zu verlassen, die ihnen Schutz gaben. Schutz vor dem, was auch immer es war, das in dem Haus auf der Lichtung lebte. Wenn die Menschen es auch aufgegeben hatten - nein, verlassen war es nicht.
    Auch wenn es auf den ersten Blick so aussah. Es mochte einmal das Haus eines wohlhabenden Bauern gewesen sein, so breit und behäbig, wie es unter dem Himmel lag. Aber selbst durch den Dunst sah Mina die riesigen Löcher im tief heruntergezogenen Dach, die kahlen Stellen, an denen geschwärzte Balken in die Nacht ragten. Der stolze First war eingestürzt, ein wirres Durcheinander von zerborstenen Ziegeln und Sparren. Es war noch keine Ruine, wie die Reste der mächtigen Mauern im düstren Tal der Tänzerin. Aber die Zeit zupfte mit spitzen Fingern unerbittlich an den Steinen.
    »Wir hätten nicht alleine herkommen sollen«, flüsterte Pipa. »Das ist kein gutes Haus.«
    »Natürlich ist es das nicht, Dummerchen«, wisperte Rosa scharf. »Du wolltest mitkommen, erinnerst du dich?«
    Aber Pipa schien es kaum zu hören. Schaudernd schlang sie die Arme um sich.
    »Böse ist es«, murmelte sie. »Ein böses, altes Haus.«
    Vielleicht war es das, dachte Mina, während sie versuchte, mehr zu erkennen. Aber was sie über die Lichtung anzuwehen schien, fühlte sich nicht wie Zorn an, oder wie Wut. Eher wie … Einsamkeit.
    Steinkanten spießten aus den Mauern hervor. Die Fensteröffnungen waren nur noch leere Augenhöhlen, blind
und voller mondleuchtender Glassplitter in den verzogenen Rahmen, wie erstarrte Tränen.
    Mina erinnerte sich an das, was Lilja über verlassene Häuser gesagt hatte, die Träume, die sie träumten. Erinnerte sich ein leeres Haus an das Leben, das es in sich geborgen hatte? Träumte die vermoderte Türschwelle von Kinderfüßen, die über sie hinweggesprungen waren? Sehnten die Fenster sich nach liebevollen Frauenhänden, die sie mit Vorhängen schmückten? Blickten sie im Schlaf noch manchmal nach drinnen, in eine warme Stube, wo sich das Spinnrad drehte und Pfeifenrauch unter der Decke kräuselte; nach draußen, in einen grünen Garten voller Kräuter und Blumen und Mädchenlachen, anstatt auf die nackte Erde?
    Wie schwarz sie war, diese zerwühlte Erde, tiefschwarz, trotz allen Mondlichts. Schwarz auch die Mauern, die Fensterrahmen, die wenigen Ziegel, die es noch gab. Brandgeruch lag in der Luft, scharf und bitter. Mina schmeckte ihn auf der Zunge, so deutlich war er noch. Zögernd machte sie einen Schritt nach vorn.
    Pipa packte sie am Ärmel.
    »Bleib hier!«
    Ihre Augen waren rund vor Furcht, ohne Missmut, ohne Groll. Mina hätte ihr gern zugelächelt, als Dank für diesen Blick. Aber mit zuckenden Wangen blickte sie stattdessen von ihrem Gesicht zu Rosas, in dem die feinen Brauen sich auf der mondhellen Stirn zusammengezogen hatten.
    Rosa schüttelte langsam den Kopf.
    »Der Pug wird nicht herauskommen, Pipa«, sagte sie. »Wenn er wirklich drinnen ist. Sie entfernen sich nie weit von den Häusern. Wenn Mina etwas von ihm erfahren will,
muss sie hineingehen. Müssen«, sie reckte das Kinn nach vorn, »müssen wir hineingehen.«
    »Bist du verrückt? Er tötet uns!« »Unsinn.« Rosa sagte es ganz sanft. »Es ist nur ein Pug, kleine Schwester. Nicht größer als Zinni. Er kann uns nicht töten.«
    »Pugs sind stark«, murmelte Pipa, und Mina dachte an die alten Kindergeschichten. Die sauer gewordene Milch, die umgestürzten Möbel …
    Rosa legte eine Hand auf Minas Arm und sagte: »Es ist deine Entscheidung, Mina.«
    Mina lauschte in sich hinein. Es war finster dort drüben auf der Lichtung; eine Finsternis, die der Mondschein nicht vertrieb, nur verstärkte. Aber immer noch spürte sie nichts als Traurigkeit, Verlassenheit. Vielleicht sehnte sich das Haus danach, dass jemand es wiederbetrat, nach all der Zeit?
    Sie nickte. Rosa griff Pipas Arm fest mit der anderen Hand. Den nächsten Schritt auf die Lichtung machten sie zu dritt.
     
    Der Dunst wurde feiner, je näher sie kamen. Die scharfen Kanten, zerrissenen Linien wurden deutlicher. Verwitterte Zaunlatten ragten schief und sinnlos in die Luft. Zerbrochene Steinplatten hatten sich auf dem Weg verkantet, der zum Eingang führte. Aber nirgendwo wucherte Unkraut, nicht ein Halm hatte sich durch die breiten Risse geschoben. Nur die schwarze Erde war wie ein dunkler Staub über

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