Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Rosas, stand vorsichtig auf und hielt Bündel und Spieluhr dabei fest umklammert. Sie achtete sorgsam darauf, mit den Füßen nicht auf dem glatten Stein auszurutschen. Als sie sicher stand, wollte sie einen Knicks machen; aber die Geste schien ihr albern und fremd am Ufer des weiten, grauen Nebelsees. Sie verbeugte sich schließlich, langsam und tief.
Die Nixe zögerte. Dann neigte sie den Kopf, um eine
Winzigkeit nur; ein Wassertropfen fiel ihr aus den Haaren und zerplatzte auf ihrem blassen Schlüsselbein.
Der Fischschwanz wellte das Wasser. Die Nixe wandte sich halb um, als wollte sie in den See zurücktauchen. Aber sie zögerte. Ein schlanker, nebelblasser Arm streckte sich Mina entgegen.
»Seltsames Menschenmädchen«, sagte die Nixe, und es klang noch verwunderter als zuvor. »Mit einem seltsamen Spielzeug. Es ist lange her, dass wir Schwäne gesehen haben. Zu lange ist es her. Und hier bist du nun, Menschenmädchen, und hältst einen besonders schönen in deinen Armen.«
Mina schüttelte verwirrt den Kopf, wich auf dem Stein zurück. Wassertropfen vom Arm der Nixe fielen auf die Spieluhr. Aber sie berührten nicht die Kristallreste auf ihrem Deckel. Wie von einer unsichtbaren Form darüber glitten sie ab und sprangen auf den Fels zu Minas Füßen.
»Was … was meinst du?«, fragte Rosa und hielt Minas Beine fest, damit sie nicht ausrutschte.
Die Nixe deutete mit dem Kinn zum See.
»Früher«, sagte sie mit einer Stimme wie das dunkle Wasser in einem tiefen Weiher, »früher schwammen die Schwäne zwischen den traurigen Schwestern, wie leuchtendes Silber und strahlendes Licht. Sie waren noch schöner als die verlorenen Mädchen, und wir liebten sie sehr. Sie sind verschwunden, einer nach dem anderen. Wir wissen nicht, wohin sie gezogen sind. Aber das Wasser ist kälter ohne sie, und der See vermisst ihre Federn, die ihn streichelten. Da, auf ihrem seltsamen Spielzeug, da ist einer, wie ein König unter den Schwänen. Aber auch er ist kaum noch zu sehen.«
Minas Herz klopfte schneller. Sie ließ das Bündel auf den Felsen gleiten, öffnete den Deckel der Spieluhr und tastete mit zitternden Fingern herum, drückte und hoffte, bis die Schublade mit einem leisen Knirschen aufsprang. Das Medaillon glitzerte kalt im Nebel, als sie es der Nixe hinhielt.
»Was ist das? Noch ein neues Spielzeug?« Die hellen, starren Augen kamen näher heran. »Aber nein, es sind zwei Menschenjungen. Zwei Menschenjungen, die unter dem Schwan schlafen. Gehören sie zu ihm? Beschützt er sie mit seinen Flügeln?«
Mina hob die Schultern, geriet beinahe aus dem Gleichgewicht dabei. Rosa umklammerte ihre Beine fester.
»Wir wissen es nicht«, sagte sie und starrte die beiden Bilder an, die über dem Wasser hin und her pendelten. »Aber wir … wir suchen nach ihnen. Meine Freundin sucht sie.«
Etwas Helles flirrte. Schneller, als Mina sehen konnte, hatte die Nixe die Hand ausgestreckt, und kühle, nasse Finger berührten die ihren. Sie waren nicht weich, nicht sanft; ihr Griff war kräftig, als sie Minas linke Hand von der Spieluhr lösten. Die Nixe drehte sie um und betrachtete sie, und Tropfen fielen von ihrer Stirn auf die Handfläche. Sie war immer noch gerötet, und Mina staunte darüber. Seit das Jucken aufgehört hatte, hatte sie nicht mehr daran gedacht.
»Ich sehe«, sagte die Nixe und strich mit einem langen Finger darüber. »Bei der Sonne bist du also schon gewesen. Und sie war nicht freundlich zu dir, oh nein. Die große, heiße Sonne ist nicht ungefährlich für kleine Menschenkinder, wusstest du das nicht? Immerhin …«
Noch mehr Tropfen sprangen herunter, als sie die Stirn in Falten legte.
»Es war mutig von dir, sie zu befragen. Vielleicht bist du auch mutig genug, es mit dem Mond zu versuchen?«
Mina starrte auf ihre Handfläche. Sie verstand nicht, wovon die Nixe redete. Die Sonne? Der Mond? Und was hatte das alles mit Schwänen zu tun? Wohl war es heiß gewesen an dem Tag, als sie die Tante besuchte …
»Der alte Pug könnte Bescheid wissen«, sagte die Nixe, »der alte, alte Pug in seinem Haus am Fluss. Er weiß so manches über solche Dinge. Und wenn er nicht helfen will«, sie warf Rosa einen Blick zu und lachte plötzlich hell auf, »nun, dann bleiben dir ja immer noch die Sterne, Menschenmädchen, nicht wahr? Die schönen, weißen Sterne, so fern, wenn sie am Himmel stehen; so nah, wenn sie sich im Wasser spiegeln.«
Sie ließ Minas Hand fallen, achtlos, wie die Flut ihr Treibgut am Strand
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