Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
kleines Kind. Und wenn ich euch die ganze Zeit hinterherlaufen muss.«
Mina betrachtete sie, die gekrauste Nase, den verkniffenen Mund. Pipa gab sich viel Mühe, das, was sie bewegte, wie gerechten Ärger aussehen zu lassen. Aber das war es nicht. Unter den zornigen Falten, hinter dem starren, trotzigen Blick lag ein anderes Gefühl, kalt und stark wie Februareis.
Rosa verschränkte die Arme vor der Brust.
»Nein, Pipa. Du wirst uns nicht hinterherlaufen. Du gehst zurück zu den anderen. Wenn alles gutgeht, sind wir bald wieder da. Du bist noch ein halbes Kind, Pipadscha …«
» Sie «, Pipa warf das Kinn in Minas Richtung, »sie ist nicht viel älter als ich, oder? Wieso geht sie dann und ich nicht? Außerdem ist sie eine Gadsche, ich habe schon mit fünf mehr über den Wald gewusst als sie jetzt!«
» Sie «, sagte Rosa, »sie muss gehen. Ich glaube nicht, dass sie es will. Sei nicht dumm, Pipa. Sei nicht so dumm.«
»Ich bin nicht dumm!« Irgendwo flog erschreckt ein Nachtvogel auf. »Seit sie da ist, ist alles anders! Alle kümmern sich nur noch um sie. Du hast gar keine Zeit mehr für mich!«
Rosa hob die Hand, um sie auf Pipas Schulter zu legen; Pipa wich zurück, und Rosas Hand sank nutzlos herab.
»Das ist nicht wahr«, sagte sie leise und so sanft, als wollte sie mit ihrer Stimme das Streicheln nachahmen, das Pipa nicht annehmen wollte. »Du weißt, dass es nicht wahr ist. Und viele Dinge haben sich schon geändert, lange, bevor Mina zu uns gekommen ist.« Sie schwieg einen Augenblick, und der Name Viorel schwebte zwischen ihnen
in der Luft. Rosa atmete heftig aus, als wollte sie ihn fortblasen.
»Alle Dinge ändern sich. Wenn es nicht so wäre, würde der Wald unter seinen alten Blättern ersticken. Es ist nicht Minas Schuld.«
»Aber ich will es nicht!« Pipas Stimme schrillte zwischen Mond und Nebel.
Rosa seufzte. Sie wandte den Kopf ab, als gäbe es nichts mehr zu sagen.
Mina lauschte auf den grellen Ton, den Pipas Aufschrei in der Stille hinterlassen hatte. Nein, Wut war es nicht, was darin zitterte. Es war Furcht. Bitterkalte, durch kein Streicheln, keine Umarmung aufzutauende Furcht.
Sie fasste Rosa am Ärmel. Nickte, als sie aufsah.
Rosa starrte sie einen Moment an. Dann seufzte sie wieder.
»Mina …«
Mina ließ ihren Ärmel nicht los. Zu lebhaft die Vorstellung, wie Pipa allein durch den Wald zurückging, abgewiesen, ausgeschlossen.
Sie spürte, dass Pipa sie jetzt ansah, und als sie den Blick erwiderte, glätteten sich gerade die kleinen, zornig-verwirrten Falten auf ihrer Stirn. Ein schwaches, zögerliches Lächeln schlug feine Wurzeln in ihren Mundwinkeln. Als Rosa schließlich nickte, erblühte es.
»Gut«, sagte Rosa und rieb sich den Oberarm, als fröre sie. »Gut, wenn ihr es beide wollt. Aber das Geschrei hört auf, Pipa. Es ist kein Ausflug. Wir besuchen einen Pug.«
Das Lächeln stolperte auf Pipas Wangen.
»Einen Pug?«, fragte sie leise. »Meinst du nicht, wir besuchen ein Haus, wo es einen Pug gibt?«
»Nein.« Ein drittes Seufzen von Rosa. »Nein, ich glaube nicht, dass es so ist. Was die Nixe am See gesagt hat, klang … anders. Bist du dir wirklich sicher, dass du mitkommen willst, Pipa?«
»Ja!« Das Wort kam so schnell, dass es das Zögern nur noch wie einen blassen Schweif hinter sich herzog.
Die Pilze an den Bäumen atmeten neue silbrige Dunstwölkchen in den Wald. Pipas erddunkle Augen hielten Minas noch einen Wimpernschlag lang fest; Verwunderung lag darin, kein Groll. Dann trat sie einen Schritt beiseite, hinter Rosa, und wartete.
Der Mond leuchtete im Fluss. Mina schob alle anderen Gedanken beiseite, heftete den Blick auf das Wasser und ging weiter.
Zuerst war das Haus nicht mehr als dunklere Flecken im Dunst, der auf dem Fluss mit ihnen gewandert war. Verschwommene Schatten unter Bäumen, die vorihnen langsam auseinander wichen, obwohl der Fluss schmaler und schmaler wurde. Kaum mehr als ein Rinnsal war es noch, was sich schließlich auf die kleine, dunstige Lichtung schlängelte, die die Bäume freigaben. Unter dem offenen Himmel verwandelte der Mondschein das Flusswasser in Milch. Sein heller Schimmer ließ den schwarzen, massigen Schatten noch dunkler wirken, an deren Seite es scheu vorbeifloss.
Sie traten aus dem Waldrand, einen ersten zögernden Schritt auf das Haus zu. Im Mondnebel waren die Umrisse unscharf und seltsam beweglich.
»Ist es hier ?«, fragte Pipa. »Oder dort ?«
»Schsch.« Rosa legte einen Finger auf die Lippen.
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