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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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die die Mamsell manchmal vom Vorplatz wegführen musste? Aber nein - sie wusste es wieder: Sie musste in ihr Kinderzimmer gehen. Das Stubenmädchen wartete, um ihr wieder in die Alltagskleider zu helfen und das schöne neue Kleid in eine Leinenhülle zu stecken. So eine Hülle wie die, die die wunderbaren Ballkleider oben verbargen, die glänzenden, schimmernden, leuchtenden Stoffe voller kleiner Löcher und loser Nähte …
    Sie merkte, dass sie in die falsche Richtung ging. Das Kinderzimmer lag links hinunter. Warum ging sie nach rechts, zum Ende des oberen Flurs? Da war nichts, was sie etwas anging. Nichts, bis auf die unscheinbare weiß getünchte Holztür, und die staubige, enge Treppe dahinter … Wie konnte es sein, dass sie die Klinke in der Hand spürte? Wie war es möglich, dass die alten Stufen unter ihren Schuhen knarrten, dass der lange Saum den Staub vom Holz wischte? Warum stiegen ihre Beine schneller und schneller, als wüssten sie nicht, dass das, was oben auf sie wartete,
von nun an ein verbotener Ort war? Nein, es durfte nicht mehr sein, dass das späte Nachmittagslicht von draußen so weich auf ihre Augenlider fiel! Es durfte nicht sein, dass die Umrisse der verbannten Kommoden sie so vertraut begrüßten, ohne jeden Arg, dass die verstaubten Gesichter in den angestoßenen Goldrahmen ihr so zulächelten wie einem lang vermissten Freund, dass die …
    Die Bodenluke schlug hinter ihr zu, und in der Dachkammer warf Mina sich auf einen Stapel alter Leintücher und weinte.
     
    Sie weinte, bis sie keine Luft mehr bekam, bis die Tücher unter ihr nass waren und bis sie sich endlich, in einem Zipfel, die Nase putzen musste, so laut und unmissverständlich wie ein Kutscher. Erst da ließ das Schluchzen allmählich nach. Nach einer Weile setzte sie sich auf, strich das Kleid vorsichtig glatt, wischte sich mit den Handrücken über die Augen. Ihr Blick fing sich in einem alten, gesprungenen Spiegel, der schräg in einem Winkel lehnte. Langsam ließ sie die Hände sinken.
    Wie hässlich sie so aussah. Die Augen rot und verschwollen, die Oberlippe aufgesprungen. Die sanften Haarwellen der ausgekämmten Mädchenlocken zerrupft, wie Vogelnester über ihren Ohren. Der traurige Rest einer Taftschleife, passend zum Kleid. Unansehnlich. Unappetitlich. Und sie wusste ohnehin, dass sie keine Schönheit war.
    Mina seufzte und zog den Spiegel zu sich heran. Seltsamerweise tat es gut, sich mit ihrem unbefriedigenden Äußeren zu beschäftigen, auch wenn es natürlich angenehmer gewesen wäre, im Schmerz von der eigenen Lieblichkeit getröstet zu werden. Aber mit der Lieblichkeit war es
nicht allzu weit her. Ihre Stirn war zu breit, die Augen zu schmal, die Nase zu lang und die Lippen zu dünn. Zum Abschluss ein festes, jungenhaftes Kinn: ein Fuchsgesicht, wie Mamsell einmal festgestellt hatte, ohne zu wissen, dass Mina sie hören konnte. Ein Fuchsgesicht. Sie zwang sich zu einem Lächeln, drehte den Spiegel leicht, und etwas blitzte auf, blendete sie beinahe. Ein Funkeln, dicht neben ihrem Gesicht, ein Blinken in den Schatten unter einer alten Kommode. Die Spieluhr, weit nach hinten gerutscht.
    Ein scharfer Schmerz am Zeigefinger, als sie sich hinkniete und nach dem kleinen Kästchen tastete, aber sie packte zu, anstatt zurückzuzucken. Da war sie. Noch kahler als sonst, noch verbogener die Scharniere. Das Licht, das die Kristallsplitter warfen, glänzte nur noch schwach.
    Mina atmete aus. Sie fasste nicht nach der kleinen Kurbel, die den Musikmechanismus in Gang setzte. Stattdessen öffnete sie den Deckel der Spieluhr.
     
    Die Schublade darunter hatte einmal Schmuck enthalten. In den staubigen grünen Samt gepresst waren Abdrücke wie von Ringen: flache Kreise von den schlichten, kurze, halbrunde Linien und scharfe Zacken von denen, die Edelsteine getragen hatten. Rechts oben, ganz am Rand, der Rest einer Verzierung, von einem Anhänger vielleicht; ein durchbrochenes Muster wie die Eisenranken des Zauns, gerade noch zu fühlen, wenn man mit der Fingerspitze darüberstrich. An dieser Stelle ließ der Samt sich anheben. Das fand man schnell heraus, wenn man ein neugieriges kleines Mädchen mit geschickten Fingern war. Und wenn man dann zufällig eine lange, dünne Nadel hatte - aus einer der runden Schachteln etwa, zwischen flüsterndem
Seidenpapier und einzelnen Stoffblumen, die nach Staub und Puder rochen -, dann konnte man sie in das mäusehaarschmale Loch schieben, das zum Vorschein kam. Und dort, wo nichts war,

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