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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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verhuschte Schneiderin unter tausend Entschuldigungen immer wieder versehentlich in ihre Knöchel stach. Und selbst wenn sie sie gespürt hätte, selbst wenn ihr Ströme von Blut die Beine
hinuntergelaufen wären, bis ihre Schuhe überquollen wie bei Aschenputtels Schwestern - sie hätte nicht eine Miene geregt. Jede überflüssige Bewegung, jede Bemerkung würde den Alptraum nur verlängern. Alles, was es gab, war, stillzustehen, Gedanken und Gefühle im eisernen Zaum zu halten und manchmal einen leisen, nicht allzu schmerzvollen Seufzer von sich zu geben, damit das aufgeschlagene Knie nicht vergessen wurde. So wunderte sich weder die Schneiderin noch die Mamsell über ihr schweigsames Betragen. Seltsam, wie dieser Teil ihres Verstandes noch funktionierte, ganz unabhängig von allem anderen; wie eine aufgezogene Feder, die ablief, mit sanfter, unerbittlicher Gewalt, gleich, ob die Uhr, in der sie steckte, auch zerbrochen war.
    Als sie endlich wieder im Flur stand, kam es ihr vor, als hätte sie in der ganzen Stunde im Damensalon kein einziges Mal geblinzelt. Ihre Augen waren wund, es kratzte in ihnen wie von Sandkörnern. Das lange Kleid, das sie immer noch trug, raschelte trocken. Ihr Konfirmationskleid. Es passte noch nicht recht, fühlte sich seltsam an, als sie über die glatten Fliesen zurückging. All dieser steife Stoff über ihren Beinen, der schwere, gestickte Saum, der ihre Knöchel bei jedem Schritt berührte, nicht unfreundlich, aber ungewohnt. Ihr längster Rock bisher, der Faltenrock für die Kirche am Sonntag, hatte kaum ihre Waden gestreift. Aber sie hatte sich wohl darauf gefreut, oder nicht? Ein erwachsenes Kleid zu tragen. Die Haare aufzustecken. Kleine Perlen in ihre Ohrläppchen zu hängen. Eine Knöpftaille zu tragen, irgendwann später; dieses unnachgiebige Kleidungsstück, das den Körper in eine Art strahlende Rüstung verwandelte. Ihnen gleich zu werden in ihrer uneinnehmbaren Schönheit, den bunten Damen aus Licht …

    Blanker Schrecken erfasste sie, als sie diesen Gedanken in sich aufspürte. Nicht der Dachboden! Niemals wieder der Dachboden! Sie durfte nicht an ihn denken, ihn sich nicht vorstellen, den glitzernden Staub, die sanften, schweigsamen Polster der alten Möbel, das Leuchten der Abendsonne, wenn sie die schräge Kammer mit Rot und Gold erfüllte - still, still! Der Dachboden hatte sie verraten. Der Dachboden würde sie ins Unglück bringen wie die wilden jungen Männer die armen Mädchen, von deren leblosen Körpern im Fluss ein Wispern manchmal bis ins Kinderzimmer stieg. War nicht der Dachboden schuld daran, dass der Doktor … und der Vater! … solche … Dinge über sie dachten? Dachten, sie wäre womöglich …
    » Verrückt «, hauchte sie in die kühle, unbewegte Luft. Es war niemand da, der es hätte hören können. »Verrückt …« Das Wort schmeckte fremd. »Verrückt, verrückt, verrückt.« Wenn man es schnell hintereinander sagte, verlor es jeden Sinn. Dann blieben nur die beiden Silben, in der Mitte durch den Gleichlaut aneinandergehakt. »Verrückt …« Sie schlug sich auf den Mund, sehr fest, und schmeckte mit einer seltsamen Befriedigung das Blut auf ihrer Zunge. Das hast du nun davon, du verrücktes Ding!
    Am Fuß der Treppe musste sie stehen bleiben. Das Kleid war so lang, dass sie nicht einfach hinaufgehen konnte wie sonst. Sie musste den Saum raffen, um sich nicht mit den Schuhspitzen darin zu verfangen. Wie machte man es noch? Vorsichtig nahm sie die erste Stufe. Nein, noch nicht hoch genug - aber auch nicht zu hoch, auf gar keinen Fall zu hoch! Mademoiselles Ermahnungen zwitscherten in ihren Ohren. Nur nicht die Knöchel zeigen oder gar den Rüschensaum des Unterkleides! Kleinfingerbreite Abstände
entschieden über schicklich und unschicklich, über leichtes Mädchen oder junge Dame. Sie versuchte es noch einmal und wunderte sich gleichzeitig darüber, dass es ihr immer noch so wichtig erschien. Wer würde sich für ihre Rocklänge interessieren, wenn man sie fortschaffte in eine … eine Institution ? Wenn man sie - fortschaffte .
    Das Wort blieb lange haften, sie musste sich konzentrieren, um es wieder aus dem Kopf zu bekommen. Im ersten Stock angelangt, fiel ihr einen Moment nicht ein, was sie hier oben sollte, mitten am Tag. War das auch eines von diesen … diesen Anzeichen ? Würde sie von nun an immer mehr vergessen, was man ihr aufgetragen hatte, wie sie hieß und wo sie wohnte, bis sie hilflos herumirrte wie die Alte mit dem Lumpenkopftuch,

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