Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Pfad, von dem Viorel gesprochen hatte. Er wand sich zwischen hügeligen Wiesen hindurch, auf denen Kühe grasten. Halme hingen ihnen aus den Mäulern, wie gewaltige grüne Schnurrbärte. Wie lange war es her, dass sie darüber gelacht hatte? Es musste in einem anderen Leben gewesen sein, so schwach war die Erinnerung. Und doch lag es nicht mehr als ein paar Tage zurück.
Oft raschelte es in den Halmen neben ihrem Weg, aber sie drehte nicht den Kopf. Keine schwarze Schwanzspitze, die zwischen den Rispen tanzte, kein freundliches Schnurren, dass sich unter dem Rauschen verbarg. Es gab Momente, in denen sie trotzdem gegen alle Vernunft hoffte, Tausendschöns runder Kopf würde sich gegen ihre Wade schmiegen, wenn sie nur nicht zu früh hinsah und den Augenblick verjagte. Der Kater war der Erste, der mit ihr gegangen war.
Aber es geschah nie, und sie wusste, es würde auch nicht geschehen. Sie ging allein.
Als ihr der vertraute bittere Geruch in die Nase stieg und den Duft des Dorfes überlagerte, erschauerte sie. Aus den Weiden führte der Weg sie in ein gelbes Meer; Rapsfelder
entrollten sich zu beiden Seiten, und sie hörte das unendliche Wispern, mit dem die Pflanzen sich ineinander verhakten und wieder lösten. Rapsfelder. Wie passend das war …
Nicht weit hinter dem Dorf fand sie den Wegweiser; den Ersten, den sie bisher gesehen hatte. Nur ein einfaches, zugespitztes Holzschild auf einem Pfahl, die Schrift darauf so klar und entschieden wie auf dem Stempel in der Akte, die sie in ihrem Bündel trug: Privatgelände. Nervenanstalt.
Das Irrenhaus.
Sie hätte ihn nicht gebraucht, diesen Hinweis; nicht nach dem Gestank des Rapses, der sie einhüllte. Genauso wenig wie den Zinken, den sie auf der Rückseite des Schildes fand. Es war nicht der Vollmond, den sie erwartet hätte; nur das verwunderte sie. Ein schlichtes Dreieck stattdessen, mit einem Kreis in der Mitte, der an einem Strich zu hängen schien. Sie wusste nicht, was er besagte. Aber eine Ahnung stieg in ihr auf. Der Kreis glich so sehr einem Kopf, der in einer Schlinge steckte …
Nun, sie wusste, dass sie sich in Gefahr begab, wenn es das war, was der Zinken ihr mitteilen wollte. Seit im Gutshaus die Gartenpforte leise hinter ihr ins Schloss gefallen war, hatte sie nichts anderes getan.
Sie hielt einen Moment inne und zog das Medaillon aus dem Kleid. Als sie es aufklappte, waren die beiden Photographien so sehr verblasst, dass es kaum noch Gesichter waren, die ihr entgegenblickten. Nur Augen im verschwommenen Nichts, und die Male, eines rechts, eines links; dunkle Flecken auf leerem Papier.
Vielleicht hatte sie etwas erwartet, wenn sie die Bilder unter diesem Wegweiser öffnete; eine Stimme im Kopf, ein
Rauschen in den Feldern. Was auch immer es war, es geschah nicht. Die Photographien schwiegen sie an, und noch während sie sie betrachtete, schienen sie im fahlen Dämmerungslicht weiter zu verblassen. Sorgsam schob sie sie zurück unter das Kleid.
Das Haus war zuerst nicht mehr als ein weißer Hintergrund für die geschmiedeten Ranken des Zauns. Am Ende des Wegs, am Ende der Felder erhob er sich so weit gegen den Wolkenhimmel, dass Mina den Kopf in den Nacken legen musste, um zu den Spitzen aufzusehen. Sie waren wie offene Blüten geformt - Blüten, in Eisen erstarrt, mit je einem scharfen Dornenstachel im Herzen. Selbst wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte sie sie nicht erreichen.
Es gab eine Pforte, so hoch wie der Zaun; aber obwohl es sicher eine Hintertür war, wusste Mina, noch bevor sie die Klinke drückte, dass sie sorgfältig verschlossen sein würde. Das Eisen bewegte sich lautlos unter ihrer Hand, gut geölt und kalt. Die Pforte öffnete sich nicht.
Mina lehnte das Gesicht gegen die Zaunranken, die reglosen schwarzen Zweige und Blätter. Das Haus stand ein gutes Stück entfernt, sauberes Weiß hinter zartem Rasengrün. Viele hohe Fenster und ein überdachter Eingang, der von ihr wegsah, dorthin, wo die Hauptstraße sein musste. Große Türen, die weit offen standen, Menschen entließen und wieder in sich aufnahmen. Beim Eingang herrschte so viel Kommen und Gehen, wie es im Waisenhaus still gewesen war.
Es war schwer zu glauben, was sie sah. Schwer zu glauben, dass dies der schreckliche, so lange namenlose Ort
sein sollte, das furchtbare Ziel ihrer Reise. Menschen standen vor dem Eingang in kleinen Gruppen beieinander; sie konnte sie reden hören und lachen. Viele weiße Kittel bewegten sich zwischen ihnen umher, aber
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