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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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ließ sich mit den Nägeln eindrücken. Ein winziger Tropfen schwarzvioletter Saft quoll heraus.
    Eine Holunderbeere. Übrig geblieben vom letzten Jahr, vom Schnee zugedeckt, von der Frühlingssonne hervorgeholt.
Kein Vogelschnabel hatte sie zwischen den Grashalmen entdeckt.
    Sie wusste nicht, ob sie froh sein sollte, als sie die Zweige und Blätter entdeckte, die zu der Beere gehörten. Um die Hausecke herum hatten sie sich durch den Zaun gewunden, Eisenschwarz mit Laubgrün bedeckt. Äste reckten sich aus den Lücken, ihr entgegen wie zum Gruß.
    Der Holunderbaum wuchs in der Mitte des Zauns. Als Mina ihn hinter der Ecke sah, fielen ihr die alten Sagen ein, die Mamsell manchmal erzählte, wenn sie einen guten Tag hatte und ihre Hühneraugen sie nicht schmerzten. Holunder kamen oft darin vor; große Bäume, die an Kirchmauern wuchsen. Schicksale ganzer Landstriche waren in diesen Sagen mit ihnen verknüpft. Wuchs ein bestimmter Holunder hoch genug, dass man ein Pferd unter ihm anbinden konnte, dann kehrte ein ferner König zurück, und große Schlachten wurden geschlagen.
    Nun, dieser Baum war hoch genug für zwei Pferde, übereinandergestellt. Was sonst kaum mehr als ein Busch wurde, hatte sich hier am Zaun in die Höhe gezogen, so lange, bis der Stamm stark genug war und keine Stütze mehr brauchte. Dunkle Blätter wucherten an graubraunen Zweigen, zur Sonne hin, über den Zaun.
    Mina stand da und sah in die Krone auf. Fast, ohne es zu merken, ließ sie die Beere fallen und wischte sich die Hand sorgfältig am Kleid ab. So gut der Saft schmeckte, wenn Mamsell ihn aufgekocht hatte, so drohend hatte ihr Zeigefinger vor den rohen Beeren gewarnt. Es steckte ein Gift in ihnen, das man ihrer schönen, glänzenden Schale nicht ansah.
    Hinter dem Baum war die Sicht auf das Haus versperrt.
Latten waren gegen den Zaun genagelt worden; glatt gehobelt, weiß gestrichen, aber immer noch eindeutig Latten, die keinen anderen Zweck erfüllen sollten, als die Sicht zu verstellen. Ihre Kanten ragten höher auf als die Zaunspitzen. Hier gab es kein Hinüberkommen. Was blieb, war der Holunder.
    Mina kletterte schon, bevor ihr klarwurde, wie sie sich entschieden hatte.
    Das graubraune Holz war weich und brüchig in ihren Händen. Es ließ sich zusammendrücken, als wäre es hohl. Keine Rosa, die ihr nach oben half; kein Rock, an den sie sich klammern konnte, wenn die Äste so sehr schwankten unter ihrem Gewicht. Mina krallte die Fingernägel in die Borke.
    Als sie sich auf der anderen Seite fallen ließ, schnellten die Zweige zurück in den wolkigen Himmel. Alle Äste bogen sich von der schattigen Hausmauer weg, auf die Wiese zu. Der Weg, der sie hineingeführt hatte, würde sie nicht wieder hinausbringen.
    Mina wischte sich die Hände ab und stand auf, aber als sie hochblickte, taumelte sie und wäre beinahe rücklings wieder hingestürzt. Hinter der Ecke wich das Haus weit zurück, gab Platz frei für einen Rasen. Und aus der Mitte des Grüns starrte Glas auf Mina herab, so viel Glas, dass es sie blendete.
    Es musste ein Gewächshaus sein, eine Volière oder ein Wintergarten. Das Gebilde strebte dem Himmel zu, immer steiler und steiler, bis es hoch oben zur Mitte abknickte und eine Spitze bildete wie ein Zelt oder eine Pyramide. Die Stützen und Winkel, die das Glas trugen, waren so schmal und zierlich, dass sie kaum zu sehen waren zwischen all dem Funkeln, selbst im Dämmerlicht.

    Mina fühlte, wie ihr Mund trocken wurde.
    Schatten lagen hinter dem Glas, Umrisse wie von Pflanzen mit großen dunklen Blättern. Aber es schien auch Bewegung zu geben. Hellere Dinge, die sie nicht genau erkennen konnte, trieben von einer Scheibe in die andere. Sie konnte nicht anders, sie musste näher herangehen.
    Erst als sie unter dem Holunder hervortrat, sah sie die Bänke und die Menschen, die auf ihnen saßen. Viele waren es; ein gutes Dutzend. Männer und Frauen, in lange, milchweiße Nachthemden gekleidet, die sie auf den Sitzen umgaben wie winzige Seen. Und alle starrten sie an.
    Graue Gesichter, so matt gegen das leuchtende Weiß ihrer Kleider. Fahle Augen, in denen sich nichts rührte. Glitzernde Speichelfäden in Mundwinkeln, hängende Lider, verzerrte Falten. Zu zweit und zu dritt saßen sie auf den Bänken; aber keiner berührte den anderen.
    Reglos starrten sie Mina an, und Mina starrte zurück. Die Zeit hielt inne und beugte sich über die seltsame Szenerie im Garten, um sie zu betrachten. Selbst die Wolken, die sich in den Glasscheiben

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