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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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die sich über die Knochen wanden. Wie die Wächterschlangen auf der Wiese des grünen Königs mit der Krone aus Tautropfen. Der so voll Zorn war, wie er voll Liebe gewesen war für ein kleines, goldenes Schmuckstück, das ihm ein Menschenmädchen stahl …
    Mina sah ihn an, den Mann, der vor einer Barriere aus blauen Blumen tobte. Sie sah den Pulsschlag an seinem Hals, die tiefen Falten, in die seine Stirnlocken fielen. Die harten Linien um seinen Mund, die das Zauberlächeln zerrissen hatten. Sie hörte seine Stimme, heiser vor Wut. Und sie hörte das, was darunter bebte.
    Sie löste den Kreis nicht auf. Aber sie streckte eine Hand aus, so weit es ging. Berührte mit einer Fingerspitze Viorels Faust.

    Es gab einen langen, kalten Augenblick. Einen Augenblick, in dem es möglich war, dass er sie packte, packte und aus dem Feenkreis zerrte, um zu tun, was immer der Zorn ihm gebot. Seine Augen schnitten tief in ihre. Aber das, was darunterlag, berührte sie noch tiefer.
    Beide hielten sie inne; der Augenblick verging, und seine Fäuste sanken herab. Ein Wimpernschlag, ein zweiter.
    Dann begann er zu weinen.
    Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, in den Bart, als wollten sie sich dort verstecken. Er wandte den Kopf ab, bohrte sich die nutzlosen Fäuste in die Augenhöhlen. Sank auf die Knie.

Noch niemals in ihrem Leben hatte Mina Tränen auf Männerwangen gesehen.
    Sie wusste nicht, was sie tun sollte; wusste es noch weniger als vorher. Also blieb sie so, wie sie war, rührte sich nicht, mit ausgestrecktem Arm. Hielt ihm die Fingerspitze hin, und als er den Kopf senkte, legte sie sich von selbst auf eine seiner Locken. Sie war glatt und weich und heiß vom Schweiß.
    »Ich kann nicht«, murmelte er unter seinen Haaren versteckt, wie sie sich unter ihren versteckt hatte, »kann nicht sein, wenn sie nicht da ist. Nicht schlafen, nicht essen. Nicht leben. Nicht sein. Kann nicht, kann nicht …«
    Er atmete stockend aus. Die Locke bewegte sich unter Minas Finger.
    »Kann sie nicht finden. Habe gesucht. Alle haben gesucht nach euch, der Doktor, seine Leute und die fürchterlichen Hunde.« Er schauderte. Wieder bewegte sich die Locke. Oder war es Minas Finger, der darüberstrich? »Aber ihr wart nicht da, wo ihr sein solltet. Ihr wart nirgendwo.
Ich habe gesucht. Überall. Aber ich kann sie nicht finden. Kann … kann nicht …«
    Er riss den Kopf hoch, plötzlich, und ihre ganze Handfläche strich über seine Wange. Er schien es nicht zu bemerken. Sein Blick war wild und aufgewühlt wie Sturmwellen in einem schwarzen Wasser.
    »Willst du, dass ich sage, es tut mir leid? Dass ich euch verraten habe? Willst du das? Dann sage ich es. Und vielleicht meine ich es sogar. Du bist ein nettes Mädchen, Mina. Nett und hübsch. Das ist die Wahrheit. Und nicht dumm, wie es scheint.«
    Ein Gespenst des Zauberlächelns stahl sich in seine Mundwinkel. So blass, wie es auch war, es gab Mina kleine Bisse in die eigenen Wangen, als sie unwillkürlich versuchte, es zu beantworten.
    Er seufzte, und seine Schultern sanken nach unten.
    »Nein, gar nicht dumm. Obwohl du noch so jung bist. Es war falsch, was ich versucht habe zu tun. Das ist mir klar. Aber ich muss wissen, wo Rosa ist. Ich muss es wissen. Kannst du das nicht verstehen?«
    Er schmiegte das Gesicht in ihre Handfläche, ohne es zu merken. Sein Bart kratzte über ihre Haut; seine Tränen waren feucht und warm. Mina hatte keinen Namen, der auf das passen wollte, was hier geschah.
    So lauschte sie in sich hinein, nach einer Antwort auf seine Frage. Verstehen? Rosas Stimme klang noch in ihrem Ohr, die schrille Nachtstreitstimme, die nach so viel Schmerz geklungen hatte. Wenn er sie so sehr brauchte, warum verletzte er sie dann? Verstehen … Hinter Minas Stirn lehnten sie wieder die Köpfe aneinander, Rosa und Viorel, abends beim Rasten; bettete einer den Knöchel auf den
Fuß des anderen, schlangen sie die Arme umeinander, bis man kaum sagen konnte, welche Hand wem gehörte. Redeten im Flüsterton über Dinge, die niemand außer ihnen verstand. Verstehen …
    Langsam schüttelte sie den Kopf, mehr für sich, denn er blickte nicht auf. Nein, verstehen konnte sie es nicht. Aber da war etwas, das sie ahnte, verborgen hinter den verschlungenen Linien, die ihre Gestalten im Schein von Liljas kleiner Lampe gebildet hatten. Auch auf der nächtlichen Lichtung hatte sie es gespürt, obwohl sie nicht begriff, wie das sein konnte. Selbst hier war es jetzt, in Viorels Tränen, und auch in dem

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