Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan
Mina. Du konntest wohl nicht anders. Aber jetzt, jetzt musst du vernünftig sein und mir sagen, wo sie ist, hörst du? Jetzt, wo ich dich gefunden habe, dir geholfen habe. Jetzt, wo du …« Er küsste sie wieder, und diesmal fühlten seine Lippen sich an wie Eis
unter der Wärme der Haut. »Wo du … vielleicht … ein bisschen erwachsener bist …«
Sie schob sein Gesicht weg, es geschah ganz von selbst. Ihre Hand bewegte sich, es war die einzig richtige Bewegung, aber als sein Blick zu ihr zurückkam, wünschte sie, sie hätte es nicht getan. Unter den schimmernden Edelsteinen glühte schwarze Kohle.
»Oh, ich weiß«, zischte es aus seinem Lächeln. »Ich weiß, du glaubst, ich bin nicht gut. Nicht gut genug, nicht für dich. Und nicht für sie, das glaubst du doch? Deshalb hast du sie von mir weggelockt. Nachdem du ihr all diese Dinge über mich verraten hast, die der verfluchte Kater gesehen hat. Er, der seine Nase überall hineinstecken muss. Damit sie mit dir geht und mich verlässt! Nur deshalb hast du es getan!«
Hilflos starrte sie ihm ins Gesicht. Er redete wie im Fieber. Wieder versuchte sie, den Kopf zu schütteln, ihm irgendwie zu sagen, wie furchtbar er sich irrte. Aber er achtete nicht darauf. Und der Schrecken in Mina wurde langsam zu einem harten Klumpen, der ihr die Luft abdrückte. Oder war es seine Hand, die sie immer noch gepackt hielt?
»Vielleicht hast du gedacht, du wärst schlauer als ich, als wir alle. Weil du lesen und schreiben kannst, junges Fräulein. Aber es gibt vieles, was man nicht in der Schule lernt. Wie dies hier«, er küsste sie wieder, so fest, dass ihre Unterlippe aufsprang. »Und dass man sich manchmal mit Leuten zusammentun muss, die man sonst meiden würde wie der Teufel das Weihwasser. Wenn sie einem wiederbringen können, was man verloren hat.«
Er musste verrückt geworden sein. Verzweifelt versuchte Mina, einen Sinn in dem zu finden, was er ihr ins Gesicht zischte. Es gelang ihr nicht. Schwach und hilflos hing sie
in seinem Arm, seinem Griff an ihrem Hals; wie die Mutter daheim auf dem Sofa im Damensalon, mit dem Riechfläschchen in der kraftlosen Hand …
»Der Doktor«, fauchte Viorel, und Mina erschrak tödlich, »kann ganz vernünftig sein, wenn man weiß, wie man ihn anpacken muss. Er versteht, was ein Mann fühlt, dem seine Braut einfach davonläuft. Und wenn er dazu noch ein kleines Mädchen zurückbekommen kann, das er seit Tagen sehnlich sucht …«
Es schrie in Mina, als sie verstand. Der Schatten, die schemenhafte Gestalt im Hof des Waisenhauses. Der Doktor hatte nicht allein auf sie gewartet.
Sie stieß ihn zurück, mit einer Kraft, von der sie nicht wusste, woher sie kam. Seine Hand riss von ihrem Hals, Luft strömte in ihre Brust. Sie hustete lautlos, versuchte taumelnd aufzustehen, während er nach ihren Handgelenken griff. Das Kohlenfeuer toste aus seinen Augen.
»Bring sie mir zurück, du kleine Hexe! Bring sie mir zurück!«
Nicht Furcht war es mehr, was sie fühlte, sondern nacktes Entsetzen. Sie wich zurück, so gut es ging, stieß mit dem Rücken gegen Baumstämme und Sträucher. Er streckte die Arme nach ihr aus in einer Geste, die so schrecklich nach einer verzerrten Umarmung aussah, dass es sie schauderte.
»Wo ist Rosa, Mina! Wo - ist - Rosa!«
Panisch irrten Minas Augen durch Knick und Feld. Es gab keine Hilfe, keine Rettung. Nur viel zu dünne Zweige und Halme, und den Boden unter ihr … den braunen Boden … das Gras … das grüne Gras, aus dem es einmal, in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, so zart und blau hervorgeleuchtet hatte … so zart und so machtvoll.
Sie fiel auf die Knie, hörte ihn lachen, schrill wie eine Sturmmöwe. Unter ihren Fingern bewegten sich die Halme hin und her. Wie rasend strich sie darüber, zügelte mühsam die Angst, um sie nicht zu zerreißen. Grün, Braun, Grün, Braun, Grün …
Blau. So blass und zart wie der Himmel an einem frühen Sommermorgen. Nicht größer als ein Fingernagel. Dort, unter ihrer rechten Hand. Und dort, unter ihrer Linken. Vor ihren Knien. Neben ihrem Kleid.
Blau. Überall um sie her. Winzige Blumenköpfchen schimmerten auf, wenn sie darüberstrich. Verblassten wieder unter dem Wind.
Er sah sie.
»Wag es nicht, Mina!«, schrie er. »Wag es nicht, unsere eigenen Künste gegen mich zu gebrauchen! Wage es nicht!«
Er ballte die Fäuste, einen Zentimeter nur vor dem Feenkreis. Sie konnte die geschwollenen Adern auf seinen Handrücken sehen. Wie kleine Schlangen,
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