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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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Frühlingsregen fällt; nur den Wind, der ihre Blätter hin und her bewegt. Wir haben nie gehört, wie das Wasser flüstert, wenn es träumt … Wir raten nur, schlecht und recht. Manchmal haben wir Glück dabei. Manchmal nicht.«
    Sie schlang die Arme um die Knie, und so einsam, wie sie dabei wirkte, wünschte Mina sich, sie würde schweigen. Würde dem bitteren Schmerz, der an ihr fraß, erlauben, wieder die Kehle hinunterzusinken. Aber er hatte sich schon zu fest in ihre Zunge gekrallt.
    »Hyazinth«, sagte Lilja, und es war kaum noch zu hören, »war beinahe so schön wie meine Aglaia. Er kam von einer anderen Sippe zu uns. Sein Gesicht war hell, so wie Karols Gesicht. Keiner wie wir. Aber doch so ähnlich, dass sie sich nur mit den Augen verständigen konnten, er und sie, Hyazinth und Aglaia. Als ich sie das erste Mal zusammen sah, wusste ich, dass sie etwas Vollkommenes würden, wenn sie beieinanderblieben. Und so war es auch. Sie lachten und tanzten den ganzen Tag, ob wir hungerten oder fettes Fleisch auf dem Feuer hatten, ob es hagelte oder der Sommerwind uns liebkoste. Wir liebten sie so sehr, und die Gadsche liebten sie auch. Sie und Zinni, der bald kam, der mit ihnen tanzte, kaum dass er auf seinen krummen Beinchen stehen konnte. Sie jubelten ihnen zu, schon lange, bevor wir ein Dorf überhaupt erreichten. Wollten Aglaias Zaubertänze sehen, wollten die Lieder hören, die Hyazinth
in der Dämmerung erfand. So wunderbare Lieder, Mina. Ich kann sie nicht mehr singen; keiner von uns kann das. Sie sind mit ihm vergangen. Wie meine Aglaia. Wie sie. Dabei sprang ich in die Taterkuhle«, Lilja schüttelte Tränen von ihrem Gesicht, »sobald ich sie nur sah, wie Nad sie zu uns zurückbrachte, als er sie endlich gefunden hatte … Und wie er sie fand, Mina, zerriss mir das Herz. Mit blutenden Füßen und toten Augen, meine schönste, einzige Aglaia. Weißt du von Rosa, Mina, was damals geschehen ist?«
    Stumm schüttelte Mina den Kopf.
    Lilja atmete tief ein.
    »Dann erzähle ich es dir jetzt. Damit du es nicht vergisst. Damit du daran denkst, immer wenn du an einem Waisenhaus vorbeigehst. Immer, wenn du einen kleinen grauen Kielkropf siehst. Und wenn du hörst, wie die Menschen in den Dörfern über die Zigeuner reden, die Kinder stehlen.
    Sie nahmen ihn weg, den kleinen Zinni, als sie allein zu dritt unterwegs waren. Eine Amtsperson nahm ihn weg, weil die Zigeuner keine Häuser haben und deshalb schlechte Menschen sind. Menschen, denen man die Kinder wegnehmen muss, damit etwas Besseres aus ihnen wird.«
    Sie schnaubte trocken.
    »Dumm und stur, wie wir Zigeuner sind, wollten seine Eltern es nicht einsehen. Sie folgten ihm in die kleine Stadt, in die man ihn brachte, und setzten alles daran, ihn wiederzubekommen. Alles; zu viel. Hyazinth vergaß seinen Sanftmut und seine freundlichen Lieder, er griff die Amtsleute an, versuchte, in das Heim einzubrechen, wohin man Zinni gesteckt hatte. Sie warfen ihn ins Gefängnis, ihn, einen Tater, wilder und freier als der Wind! Und dort,
allein, verwundet und im tiefsten Kummer, starb er, Mina. Er starb nach wenigen Tagen.«
    Sie seufzte tief.
    »Aglaia versuchte es ohne ihn weiter. Monatelang. Monate, in denen wir nicht wussten, wo sie war, in denen wir verrückt wurden vor Gram. In denen Nads Gesicht zerfurchte und ich glaubte, er würde nie wieder lächeln. Wir suchten überall nach ihr. Und endlich, endlich fand sie Nad. Oh, wie er sie fand, Mina … Ich sprang ins Wasser, dort, wo wir rasteten, mit allen meinen Kleidern, und sie zogen mich bis auf den Grund. Ich sah die Wasserperlen aufsteigen, zum Himmel, irgendwo weit oben. Und ich flehte, Mina. Oh, ich flehte. Aber es war …«
    Sie stieß den Atem aus.
    »Es war nur noch ein Leben zu vergeben. Eins, nicht zwei. Und die Taterkuhle entschied sich für Zinni. Zinni konnten wir retten.«
    Minas Augenlider brannten. Selbst wenn sie Worte aus ihrer vertrockneten Kehle hätte herausbringen können: Es hätte keine gegeben. Keine, die auch nur streiften, was in ihr war an Mitgefühl. Keine, die nur einen Herzschlag lang den Schmerz lindern würden, der über Liljas Gesicht zog wie Wellen über das Wasser; den Schmerz, der in den tiefen Linien saß in Nads freundlichem Gesicht. Mina streichelte weiter die Rockfalte, und erst, als mehrere tiefe Seufzer sich aus Liljas Brust befreit hatten und ihr Atem wieder ruhiger ging, wagte sie es, wieder zu ihr aufzusehen.
    Mit sternglänzenden Augen sah Lilja sie an.
    »Jetzt, wo ich

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