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Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
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Rascheln.
    Das brandrote Pferd blieb in ihrer Nähe. Meistens sah sie es zwischen den Bäumen hindurch allein über die Wiesen stürmen, Bocksprünge machen, wild die flammfarbene Mähne werfen. Als schüttelte es das Gefühl ab von Zaumzeug und Zügel, von Peitschen und dem Gewicht der Kutsche hinter sich. Nur manchmal ließ es sich eine Weile reiten, von Nad oder von Viorel. Mina versuchte es nicht wieder. Ihr Körper brannte von dem Ritt immer noch an Stellen, für die sie nicht einmal einen Namen hatte.
    Der Kater ließ es sich nicht nehmen, ihr all ihre neuen Dummheiten haarklein auseinanderzusetzen. Aber selbst seine Worte waren dabei weich und versöhnlich, wie alles um sie her. Gemeinsam hockten sie auf den Wurzeln am Fluss, und er rügte sie so sanft, dass sie es kaum spürte.
    »Wissen Sie«, sagte er; sie waren zu den höflichen Formen zurückgekehrt, wie es sich für eine Gutshaustochter und einen so feinen Herrn im Frack gehörte. »Wissen Sie, der Mond ist ein einsamer alter Geselle. Und hinterhältig
dazu. Wenn man sich von ihm zu weit führen lässt, gerät man auf Wege, die so einsam sind wie er selbst. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie auf ihn hören würden, Mina. Sie haben doch Freunde, oder nicht? Die Tater zum Beispiel.« Er putzte sich den Schnurrbart. »Und mich.«
    Er machte ein Geräusch, das fast wie ein verlegenes Hüsteln klang. Aber als Mina gerührt über sein Fell strich, ließ er es zu, dass sie ihn hinter den Ohren kraulte.
    Friedliche Tage, dort am Finsteren Stern, lichterfüllt und voller Duft, von Gras, von warmer Erde und kühlem Flusswasser. Sonnige Tage, und die Nächte mild und sternenklar, der Wind nicht mehr als ein Säuseln in den Ohren, besänftigend wie ein Wiegenlied.
    Aber die Unruhe blieb in ihr. Und die Gedanken. Gedanken, in denen es flatterte. Weiß und schwarz.
    Bald hatte sie festgestellt, dass sie längst nicht so weit von der Anstalt entfernt waren, wie sie geglaubt hatte. Das Pferd musste Irr wege mit ihnen dahingerast sein, Wirrpfade, um die Verfolger abzuschütteln. Wenn sie am Fluss saß und den Ufersaum entlangblickte, konnte sie hinter Baumgewirr die Türme der Stadt Schleswig erkennen. Sie zogen an ihr, die harten, geraden Linien. Obwohl sie es nicht spüren wollte.
    Sie scheute vor diesem Gefühl, vor den Gedanken, wie das rote Pferd, wenn es die Bremsen stachen. Aber mit jedem stillen Tag, der verging, wurde es schwerer, sie abzuwehren.
    Dabei gab es nichts, was sie tun konnte; der Doktor hatte es gewusst, und sie wusste es auch. Wenn sie zurückging, was konnte sie dort finden? Nichts als die letzte fürchterliche Gewissheit, von der sie längst schon wusste, dass
sie der Wahrheit entsprach. Sie waren dort. Ihre Brüder waren in dieser Anstalt. Und es gab nur eines, was das für sie selbst bedeuten konnte. Etwas, an das sie nicht denken durfte, wenn sie nicht wollte, dass die friedlichen Hügel aufheulten von Hundegebell und ihr nichts mehr übrigbleiben würde, als hinunterzugehen, in die Schlei.
    Und doch ließen sie sie nicht in Ruhe. Die seltsamen Tupfen auf den Flügeln der beiden großen Schwäne schwammen durch ihre Träume. Sie sah den kleinen, grauen zwischen ihnen, zusammengekauert und geduckt. Hörte das Schaudern in der Stimme der Vogelnestfrau, dachte an den unscheinbaren Bogengang im Flur, die Stufen, die nach unten führten. Nach unten - wohin?
    Dort unten reißt er ihnen die Flügel aus, ja, das tut er …
    Die Gedanken trübten die Ruhe wie Herbstblätter die Seen. Jeden Tag ein Stückchen mehr. Und das Ziehen und Zerren in ihr wurde immer stärker. Sie wusste, woher es kam, wo es seine Wurzeln hatte. In dem Schmerz, der in ihr lauerte, seit sie sich an die Schlange im Garten erinnert hatte. Dem Schmerz, der sie nie verließ, auch wenn er sich bisweilen klein zusammenrollte, bis sie ihn kaum mehr spüren konnte. Auch wenn sie ihn niemanden sehen ließ. Meine Schuld. Meine Schuld allein.

»Es gibt«, sagte Liljas Stimme irgendwo im Nichts, »noch einen Weg.«
    Einen Augenblick wollte Mina sich weiter schlafend stellen. Wollte die Nase tiefer in die Ärmelfalten graben, in den schwachen Geruch nach Kleiderstärke, der noch darin hing, vage und tröstlich. Aber Lilja würde sich nicht täuschen lassen. Mina hob das Gesicht aus der Armbeuge.
    Gras raschelte neben ihr, leise wie im Wind. Sie sah es nicht, aber sie wusste, dass Lilja sich auf die Fersen gehockt hatte, dicht bei ihr. Trotzdem drehte sie nicht den Kopf.
    Lilja sprach nicht

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